Marianne Hettrich zum Coaching-Boom zur Jahresplanung

Selbstoptimierung bei der Sinnsuche - So überfordern wir uns perfekt

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Neues Jahr, neue Pläne, neue Vorsätze. Der Coaching-Markt boomt, InfluencerInnen haben gut zu tun. Für die Theologin Marianne Hettrich ein untrügliches Zeichen für perfekte Selbstüberforderung. Dabei wäre anderes viel wichtiger. Und effektiver.

„So kontrollierst du dein Jahr 2024.“, „Erhalte jetzt deinen individuellen Fahrplan für das Jahr 2024.“ oder: „Mit dieser Methode reflektierst und optimierst du deine Zielsetzungen für 2024.“ So und so ähnlich lauten gerade Überschriften, mit denen SpeakerInnen, InfluencerInnen und ExpertInnen zu allen möglichen Lebensthemen ihre Coachings und Mentorings bewerben. Die Zeit „zwischen den Jahren“ scheint wie dafür gemacht, um sich mit sich selbst und den eigenen Plänen für das kommende Jahr auseinanderzusetzen. 

Es spricht ja auch einiges dafür, Lebensbereiche wie Familie und Beziehungen, Finanzen, Gesundheit, die berufliche Situation und Karriere oder die persönliche Entwicklung regelmäßig in den Blick zu nehmen und auf ihre Stabilität und Ausrichtung hin kritisch zu prüfen und zu hinterfragen – gerne mit professioneller und anerkannt ausgebildeter Unterstützung.

Überforderte Menschen

Was aber, wenn dieses Bedürfnis nach Kontrolle und (Selbst-)Optimierung in unserer gegenwärtigen Leistungsgesellschaft und globalen Vernetzung nicht mehr hilft, sondern kippt? Einige Zahlen sprechen für sich: Die Veröffentlichung von Ratgeberliteratur belegt aktuell mit circa 13 Prozent Marktanteil den dritten Platz bei den Buchhandelsumsätzen. Seit Jahrzehnten steigt die Zahl von Menschen mit psychischen und mentalen Erkrankungen beziehungsweise von Gefährdungs- und Risikofaktoren einer solchen weltweit. 

Der nicht enden wollende Boom des Coachingmarktes selbst verweist in seinem Grunde auf die Überforderung vieler Menschen in ihrer Suche nach Sinn, Veränderung und Orientierung in der Schnelllebigkeit unserer Lebenskontexte.

Der Reiz der Raunächte

Die Autorin
Marianne Hettrich, geboren 1987, in Trier Studium der Katholischen Theologie (Diplom) und der Germanistik (1. Staatsexamen), im Bistum Speyer ausgebildet zur Pastoralreferentin, aktuell tätig als Dozentin für Theologie an der Katholischen Akademie Stapelfeld (Cloppenburg).

Wenn wir auf Mythologie und Brauchtum der derzeitigen Kalendertage im europäischen Raum schauen, dann sind diese weniger dafür da, unsere Planungen – und uns selbst – für das Jahr 2024 zu optimieren. Zwar weisen die Raunächte durchaus auf unsere menschliche Sehnsucht nach Kontrolle und Ordnung hin, stellen aber letztlich ein anderes Bedürfnis nach vorne: In diesen dunkelsten und oft stürmischsten Nächten des Jahres in der Verbindung zu christlich hohen Festtagen scheinen die metaphysischen Grenzen beziehungsweise die Grenzen zwischen Zeiten und Welten durchlässiger zu sein, sind wir psychisch wie physisch, mental und spirituell besonders gefordert. 

Was wir hier suchen und brauchen, ist weniger Optimierung als erst einmal Schutz, Geborgenheit, Liebe. Und vielleicht so etwas wie die Erinnerung an einen Gott, der für mich zuallerst das Gute will – ein gelingendes Leben in Freiheit, Heilung und Heil, Versöhnung, Frieden und Gerechtigkeit.

In unseren Gast-Kommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

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