Der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung im Interview

So können Eltern ihre Kinder vor Missbrauch schützen

Der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Missbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, sagt im Interview mit „Kirche+Leben“, warum die Überbehütung von Kindern der falsche Weg ist.

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Der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Missbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, sagt im Interview mit „Kirche+Leben“, warum die Überbehütung von Kindern der falsche Weg ist.

Kirche+Leben: Ist die öffentliche Wahrnehmung von  sexuellen Missbrauch sensibler geworden?

Johannes-Wilhelm Rörig: Bis zum Bekanntwerden des so genannten Missbrauchsskandals in 2010, als viele Fälle an der Odenwaldschule oder dem Kloster Ettal unsere Gesellschaft erschüttert haben, wurde in Deutschland bei sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen zu oft weggesehen, verharmlost und vertuscht. In welchem Ausmaß Erwachsene Mädchen und Jungen sexuell missbrauchen, konnten sich viele nicht vorstellen. Seitdem ist die Sensibilität gewachsen. Dennoch ist der Schutz der Kinder vor sexueller Gewalt noch nicht gelebter Alltag. Ich hoffe, dass die Politik den Kampf gegen Kindesmissbrauch ganz oben auf ihre Agenda setzt!

Warum tut sich die Kirche oft schwer mit der Aufklärung?

Johannes-Wilhelm Rörig plädiert für ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kindern. | Foto: Christine Fenzl

Lange war offenbar der Institutionenschutz wichtiger als der Kinderschutz. Oft wurden die Taten Einzeltätern zugeschrieben, aber die strukturelle Komponente nicht gesehen. Heute investiert die katholische Kirche viel in Prävention, mit der Aufarbeitung tun sich viele kirchliche Einrichtungen aber noch schwer. Wir haben dies unter anderem bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals bei den Regensburger Domspatzen gesehen. Es war wohltuend, endlich zu erleben, wie nach bleiernen Jahren die neue Bistumsleitung Verantwortung übernommen hat. Das und der Umgang mit den Betroffenen auf Augenhöhe sind beispielgebend und zeigen, dass es für Aufarbeitung nie zu spät ist. Ich hoffe, dass dieses Engagement im Vatikan Aufmerksamkeit erhält.

Sie mahnen mehr Präventionskonzepte an. Was sollte noch erfolgen?

Das Ziel – die riesige Dimension des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen einzudämmen – ist längst nicht erreicht. Er herrscht noch viel Unsicherheit. Hier setzen auch meine Initiativen „Kein Raum für Missbrauch“ und „Schule gegen sexuelle Gewalt“ an. Wir wollen Leitungen ermutigen, Schutzkonzepte in allen Einrichtungen zu entwickeln, denen Kinder und Jugendliche anvertraut sind. Kitas, Schulen oder Kirchengemeinden dürfen nicht zu Tatorten werden. Sie sollen zu Schutz- und Kompetenzorten werden, wo Kinder und Jugendliche Ansprechpersonen finden, die wissen, was bei Verdacht zu tun ist. Das ist für diejenigen wichtig, die sexuelle Gewalt in der Familie, durch andere Jugendliche und Kinder oder durch digitale Medien erleiden.

Eltern fragen sich, wie sie ihre Kinder schützen können. Was raten Sie?

Der beste Schutz ist eine liebevolle Erziehung, die alle Bedürfnisse im Blick hat und das Kind so respektiert, wie es ist. Überbehütung ist der falsche Weg. Sie schränkt Mädchen und Jungen mit ihren Potenzialen ein und schwächt das Selbstvertrauen. Ihre Selbständigkeit fördern, aber auch im richtigen Moment helfen – das stärkt sie. Kinder brauchen Eltern, die sich Zeit nehmen, zuhören und vermitteln, dass nicht alles andere immer wichtiger ist.

Ab welchem Alter sollte man sexuellen Missbrauch thematisieren?

Mit einem Schulkind kann man über sexuellen Missbrauch sprechen. Es geht um eine unaufgeregte Information, nicht um Warnungen, denn es könnten Ängste entstehen. Es reicht zu erklären, dass manche Menschen Kinder an Scheide, Penis oder Po anfassen oder sie eklig küssen wollen. Wichtig ist die Botschaft, dass das verboten ist und Kinder immer darüber sprechen dürfen. Jüngeren sollte man beibringen, dass sie über ihren Körper und Zärtlichkeiten bestimmen dürfen – und niemand sonst.

Welche Anzeichen gibt es?

Es gibt kaum spezifische Anzeichen für Missbrauch, aber es gibt oft Veränderungen im Verhalten des betroffenen Kindes. Eines wird still und verschlossen, ein anderes aggressiv. Wichtig ist, dass Eltern Veränderungen bemerken und mit ihrem Kind sprechen. Sie sollten – ohne Druck – zeigen, dass sie wissen wollen, was ihr Kind bedrückt, egal, was es ist. Wenn Eltern vermitteln, dass sie belastbar und geduldig sind, dann haben sie eine Chance, dass sich ihr Kind ihnen anvertraut. Ich rate, bei einem Verdacht Hilfe zu suchen. Jeder kann sich an unser Hilfetelefon oder Portal wenden.

Hilfetelefon Sexueller Missbrauch: 08 00/2 25 55 30 (anonym und kostenfrei). Hilfeportal Sexueller Missbrauch: www.hilfeportal-missbrauch.de

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