Ulrike Soegtrop OSB über Jesus, Nawalny und alle anderen zum Schweigen Gebrachten

Eure Rechnung geht nicht auf! Der Trugschluss, den Karfreitag „feiert“

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Zum Schweigen und ums Leben gebracht, damit ein für allemal Schluss ist: Ein Trugschluss, den Karfreitag „feiert“. Auch heute. Ein geistlicher Leitartikel von Ulrike Soegtrop OSB aus der Benediktinerinnenatei Dinklage.

Ihr wollt diesen Jesus aus dem Weg räumen – und er wird präsenter denn je. Ihr wollt ihn mundtot machen – und begünstigt damit eine 2.000-jährige Überlieferungstradition. Ihr nennt ihn spöttisch „König“ – und Ihr habt gegen Euren Willen Recht. Ihr beraubt ihn seiner Kleider – und gebt Euch selbst die Blöße. Ihr wollt dem Jesus-Spuk ein Ende machen – und erntet Chaos pur: drei Stunden Finsternis am helllichten Mittag, Erdbeben und der Vorhang des Tempels zerreißt, Gräber öffnen sich. So geschehen vor 2.000 Jahren, an jenem ersten Karfreitag.

Szenenwechsel.

„Du, Nawalny, warum sagen dir eigentlich ständig alle: Halt durch, gib nicht auf, du musst es überstehen, beiß die Zähne zusammen … Aber was hast du denn eigentlich zu überstehen? Du hast doch in einem Interview gesagt, du glaubst an Gott. Und es steht ja geschrieben: Selig sind, die da hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden. Dann geht es dir doch bestens!”

„Da versteht mich ja jemand richtig gut! Nicht, dass es mir gerade bestens ginge, aber dieses Gebot habe ich immer als Handlungsanweisung verstanden. Es macht mir zwar keinen Spaß, hier zu sein, aber ich bedaure auch keinesfalls meine Rückkehr und das, was ich gerade tue. Denn ich habe alles richtiggemacht. Ich habe das Gebot nicht verraten. …. ‚Selig sind, die da hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden‘ – das mag ja exotisch oder komisch klingen, aber in Wirklichkeit ist das aktuell die bedeutendste politische Idee in Russland.“ (Alexey Nawalny, Schlussrede am 20. Februar 2021 vor dem Moskauer Stadtgericht)

„Du, Nawalny, … was hast du denn eigentlich zu überstehen?“: Die Frage könnte von Jesus sein. Von einem, der seinen Karfreitag bereits durchlitten hat; von ihm, dem Alexei Nawalny am 16. Februar 2024 nachgefolgt ist. Nawalnys Abschiedsworte sind nicht überliefert. Jesu letzte Worte gibt es in verschiedenen Ausführungen. Vielleicht hat Nawalny im letzten Moment seines Leidens dieses Wort Jesu gehört: „Ich versichere dir: Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43).

Ihr könnt morden, aber niemals besiegen.

 

An jedem Karfreitag setzen wir uns in der Liturgie um 15 Uhr der dunkelsten Stunde der Menschheit aus. Wir tun uns zusammen mit Millionen Menschen rund um den Erdball, die zeitversetzt diese Stunde heilighalten. Es ist der stumme Schrei des Widerstandes. 

Nein, Ihr Tyrannen, Ihr Fanatiker, Ihr Faschisten dieser Welt, Eure Rechnung geht nicht auf. Ihr werdet den Hunger nach Gerechtigkeit niemals bezwingen können. Ja, Ihr könnt morden, aber niemals besiegen: nicht Jesus, nicht Nawalny, nicht Palwascha Tokhi, Anja Niedringhaus und weitere mutige Journalistinnen, die in Afghanistan den Taliban trotzten, nicht die Mönche von Tibhirine in Algerien, denen die Solidarität mit den muslimischen Familien ihrer Umgebung wichtiger war als eigene Sicherheit, und viele andere starke Frauen und Männer durch die Geschichte hindurch.

Szenenwechsel.

In unserem kleinen Klosterwald auf dem Dinklager Burggelände sind 14 Holzkreuze verstreut aufgestellt. Am Karfreitagsmorgen gehen wir Schwestern zusammen mit unseren Gästen in Stille mit kurzen Impulsen den Kreuzweg Jesu nach. Das Wort zur zwölften Station „Jesus wird ans Kreuz genagelt“ geht mir jedes Jahr neu unter die Haut: „Zu was der Mensch fähig ist! Er nagelt seinen Gott fest. Und er, der Unbegreifliche, lässt es geschehen. Er lässt es geschehen! Die Unbegreiflichkeit Gottes, die kaum auszuhalten ist – damals wie heute.“

Wir Christinnen und Christen halten die Unbegreiflichkeit aus. An Karfreitag „feiern“ wir sie sogar. In diesem Jahr ist mir bewusster denn je, wie spektakulär das ist. Wir hören die Passion und lassen uns in unserer je eigenen Tiefe mit all ihren aktuellen Nöten und Unbegreiflichkeiten berühren. Wir beten die Großen Fürbitten für das Leben und widerstehen unserer Ohnmacht und den verführerischen Verdrängungsmechanismen. Wir verehren das Kreuz und trotzen der Kapitulation vor der Übermacht des Grauens. Wir blicken auf den Gekreuzigten und schauen in die Gesichter der Geschundenen unserer Tage und manchmal sogar in einen Spiegel. Es ist ein individuelles, ja intimes Erleben dieser Karfreitagsstunde – in der Solidarität einer Gemeinschaft.

Ist der Karfreitag vermeidbar?

Nawalny hätte nicht zurückgehen müssen. Die Journalistinnen in Afghanistan hätten schweigen können. Die Mönche in Algerien hätten gehen können. Auch Jesus hätte den Kreuzestod vermeiden können. Doch, wie – im wahrsten Sinne des Wortes – abwegig wäre das gewesen? Jesus zieht sich am Tag vor seiner Hinrichtung in die Stille zum inbrünstigen Gebet zurück. Der Weg der Entscheidung, den die Mönche von Tibhirine gegangen sind, wird anschaulich im Film „Von Menschen und Göttern“ dargestellt. Welchen inneren Kampf Alexei Nawalny oder die Journalistinnen mit sich selbst ausgefochten haben, können wir nur erahnen. Ihnen allen gemeinsam sind der Hunger und der Durst nach Gerechtigkeit und Frieden. Es hat ihnen sicher „keinen Spaß“ gemacht, den je eigenen Hungermarsch und Kreuzweg zu gehen.

Doch – und darin liegt ihre Botschaft für uns an diesem Karfreitag – sie konnten frei werden für ein Leben, an dessen Ende der Satz stehen mag: „Ich habe alles richtiggemacht.“ Oder, um es mit Jesu Worten zu sagen: „Es ist vollbracht“.

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