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Diplomatie-Experte Jörg Ernesti ist Professor für Mittlere und Neue Kirchengeschichte an der Universität Augsburg. Er erläutert, wie die umstrittenen Interview-Aussagen des Papstes zum Ukraine-Krieg zustande kommen – und welche Folgen sie haben werden.
Herr Ernesti, Aussagen von Franziskus zur Ukraine-Lage sorgen für Wirbel. Hatte der Papst sein flottes Mundwerk nicht im Griff?
Nein. So ein Interview wird genau geplant und vorbereitet. Franziskus hatte die Fragen der Journalisten. Auch das Staatssekretariat war informiert. Am Ende konnte Franziskus’ Apparat die Zitate autorisieren. Der Papst hat nicht salopp dahergeredet, sondern genau gewusst, was er sagt.
Was überrascht Sie am Interview?
Wir erfahren, wie das Video-Gespräch am 16. März zwischen Papst Franziskus, Ökumene-Minister Kardinal Kurt Koch, Patriarch Kyrill und Metropolit Hilarion in etwa abgelaufen ist. Es war aus Sicht des Vatikans kein gutes Gespräch. Franziskus musste Kyrill daran erinnern, dass hier Männer Gottes reden und nicht Politiker. Franziskus beklagt sich darüber, dass der Patriarch 20 Minuten lang mit einem Papier mit der ukrainischen Landkarte herumgewedelt habe. Kyrill hat ihm eine regelrechte Vorlesung darüber gehalten, warum es den Krieg braucht. Doch es gab ein „missing link“, das ein Reporter des Magazins „L'Espresso“ enthüllt hat.
Worum geht es da?
„L'Espresso“ stützt sich auf Angaben des Nuntius in Kiew. Demnach hat es Verhandlungen über einen humanitären Korridor für Mariupol gegeben. Es standen demnach schon 50 Busse bereit, die der Vatikan schicken wollte. Aber in letzter Minute hat Moskau die Aktion gestoppt. Als es Schwierigkeiten gab, hat sich Franziskus an Kyrill gewandt und ihn gebeten, die Aktion gemeinsam zu verantworten. Sie wurde dann aber doch in letzter Minute von der Militärführung gestoppt.
Macht der Papst also nun seine Enttäuschung öffentlich, weil die diskreten Verhandlungen nichts gebracht haben?
So kann man das sehen. Der Papst erklärt sich öffentlich. Er möchte nicht als Zauderer wahrgenommen werden und nicht wie Pius XII. enden, der sich aus Sicht der Nachwelt zu passiv und zu diskret verhalten hat.
Was gewinnt der Papst durch das Interview?
Er zeigt, dass der Heilige Stuhl nicht untätig ist. Und er erhöht den Druck auf Wladimir Putin. Franziskus hat ja gesagt, dass er gerne nach Moskau reisen würde, aber auf eine Einladung wartet. Normalerweise lädt ein Staatsoberhaupt ein anderes Staatsoberhaupt ein. Dass der Papst bislang vergebens auf eine Antwort wartet, ist ein Affront.
Warum reist Franziskus stattdessen nicht einfach nach Kiew?
Ein Besuch in Kiew würde nichts bringen; der Schlüssel zur Lösung des Krieges liegt in Moskau. Eine einseitige Solidarisierung mit der Ukraine würde dem Papst Handlungsspielraum nehmen.
Wird Putin Franziskus einladen?
Nein, davon ist nicht auszugehen. Der moralische Druck würde auf ihn dann noch höher. Für Putin ist eine Papstreise ein Risiko. Es ist nicht auszumalen, wie die Öffentlichkeit reagieren würde, wenn er eine Bitte des Papstes zurückweisen müsste. Einen Papst stößt man schwerer vor den Kopf als den französischen Präsidenten oder den UNO-Generalsekretär.
Fällt Franziskus dem Westen in den Rücken, wenn er sagt, die Nato habe vor den Türen Russlands „gebellt“?
Ich ordne das Zitat ein in Franziskus’ Kritik am Wettrüsten, die er auch in seiner Enzyklika „Fratelli tutti“ darlegt. Es geht um die Spirale der Gewalt und um die Hochrüstungsindustrie. Kritik daran ist eine Konstante in der vatikanischen Außenpolitik.
Franziskus sieht Patriarch Kyrill als „Putins Messdiener“. Was sagen Sie dazu?
Hier sieht man die Enttäuschung, ja das Entsetzen über Kyrills Haltung. Aber die Formulierung des Papstes war etwas abgeschwächt. Er hat gesagt: „Der Patriarch kann sich nicht einfach zum Messdiener Putins machen.“ Der Unterschied ist eine Nuance – aber eine nicht unwichtige.
Ist der Papst bei Kyrill nun „unten durch“?
Nein. Es ist nicht zum Bruch gekommen. Eine Begegnung, die für den Libanon geplant war, hat der Vatikan zwar abgesagt. Aber das geschah schon vor dem Interview. Franziskus hat den Aggressor nicht verurteilt, von daher kann Kyrill mit dem Messdiener-Zitat gut leben. Kurienkardinal Kurt Koch hat über die Videokonferenz mit Moskau gesagt, Franziskus habe gesagt: „Wir sind doch nicht Kleriker des Staates, sondern wir sind Hirten des Volkes und haben deshalb keine andere Botschaft als jene, diesen Krieg zu beenden.“ Das war eine sehr klare Botschaft. Ob sie so beim Patriarchen angekommen ist, kann ich nicht beurteilen.
Gibt Koch das Gespräch hier zu diplomatisch wieder?
Naja, die Videokonferenz war ja nicht undiplomatisch. Das Ergebnis des Gesprächs war, dass die Brücken nicht abgebrochen wurden. Kyrill hat Franziskus explizit dafür gedankt, dass er ihn nicht verurteilt habe. Papst Franziskus hält seine Überparteilichkeit durch. Er äußert sich mit seinem Temperament anders als andere Päpste, bleibt aber in der Tradition der vatikanischen Außenpolitik: Er verurteilt keine Staatsführer, schon gar nicht ein ganzes Volk; und er macht nicht unbedingt das, was die Massen von ihm fordern, zum Beispiel nach Kiew zu reisen. Der Papst will alle Gesprächskanäle offenhalten.
Also normale Vatikan-Diplomatie?
Was mir neu erscheint ist die fieberhafte Hektik, mit der im Vatikan gerade eine Aktion nach der anderen folgt. Für vatikanische Verhältnisse geht es gerade sehr eng getaktet zu.
Warum hat Franziskus den „Corriere della Sera“ für das Interview ausgewählt?
Auch das hat historische Gründe. Das erste richtige Interview, das ein Papst einer Zeitung gegeben hat, war Paul VI. am Vorabend seiner Reise zur UNO nach New York 1965. Das Interview hatte Paul VI. dem „Corriere della Sera“ gegeben. Damals war es ein Wortlaut-Interview. Das jetzige Interview ist nur in einem Fließtext wiedergegeben. Eine gewisse Zurückhaltung hat sich der Vatikan also vorbehalten. Trotzdem bin ich mir sicher, dass dieses Interview in die Kirchengeschichte eingehen wird.