Zwischen Austritts-Rekorden und ungeduldigen Reformern

Jahresrückblick in Bildern: 2022 und die Kirche in Deutschland

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Ein schwieriges Jahr neigt sich: massenhaft Kirchenaustritte – während die Katholikinnen und Katholiken in Deutschland versuchen, die Kirche auf dem Synodalen Weg wieder glaubwürdig zu machen. Zieht Rom mit? Und wann und wie löst der Papst die Krise in Köln?

Ein Meilenstein in der Geschichte des Landes: Erstmals gehören weniger als die Hälfte der Deutschen einer der beiden großen Kirchen an – 21,6 Millionen davon sind katholisch. Vom Ende der „Volkskirche“ ist die Rede.

Vor allem der katholische Massenexodus verläuft ungebremst: 2021 kehrten 359.338 Menschen der katholischen Kirche den Rücken – dieser Höchstwert wurde im Sommer offiziell. Der Anteil der Gottesdienstbesucher sank auf vier Prozent. Dazu kommen Auswirkungen des demografischen Wandels: Die Zahl der Taufen und Neueintritte liegt in beiden Kirchen deutlich unter der Zahl der Beerdigungen.

Der Einfluss schwindet

Vieles deutet darauf hin, dass auch der gesellschaftliche Einfluss der Kirchen schwindet. Beim Katholikentag im Mai 2022 in Stuttgart waren zwar Bundespräsident und Bundeskanzler dabei, doch die Kabinettsriege war, anders als früher, dünn vertreten. CDU-Prominenz fehlte fast völlig. Und beim Michaelsempfang der Bischofskonferenz in der Hauptstadt im Oktober fiel vor allem eines auf: das Fehlen von Spitzenvertretern der Politik.

Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Georg Bätzing, empfindet die Entwicklung als dramatisch. 360 000 Menschen hätten für sich persönlich die Kirche als Institution abgewählt, sagt der Limburger Bischof: „Das schmerzt und lastet innerlich sehr auf mir.“

Jeder vierte Christ denkt über Austritt nach

Bätzing wirbt zugleich um neues Vertrauen: Es lohne weiter, Mitglied der Kirche zu sein: Er verweist auf die vielen engagierten Christen, die sich in Verbänden, Caritas und weiteren Initiativen für andere Menschen und den Zusammenhalt der Gesellschaft einsetzten.

Dennoch dürfte der Exodus anhalten. Kurz vor Weihnachten legte die Bertelsmann-Stiftung ihren „Religionsmonitor“ vor, eine laut Stiftung repräsentative Befragung. Demnach denkt jedes vierte verbliebene Mitglied der christlichen Kirchen in Deutschland über einen Austritt nach. Unter ihnen bilden Katholikinnen und Katholiken mit zwei Dritteln die deutliche Mehrheit.

Unklarheit in Köln

81 Prozent aller Austrittswilligen gaben an, sie hätten wegen Skandalen ihr Vertrauen in religiöse Institutionen verloren. Eine feste Austrittsabsicht bekundete jedes fünfte Kirchenmitglied. Je jünger die Altersgruppe, desto öfter äußerten Befragte diesen Willen.

Zur Erosion der Kirchen dürfte nicht zuletzt die ungeklärte Situation im Erzbis­­tum Köln beitragen. Immer neue Brandherde werden entdeckt – etwa die Frage, ob Kardinal Rainer Maria Woelki Vergehen ihm nahe stehender Priester nicht sanktioniert hat; Enthüllungen zu PR-Strategien des Erzbistums; der Streit um die kostspielige Kölner Hochschule für Katholische Theologie (KHKT). Bischof Bätzing bezeichnete die Situation für das Erzbistum und Woelki als „zunehmend unerträglich“.

Benedikt XVI. und Missbrauch im Erzbistum München

Die Frage, wie Papst Franziskus mit dessen Rücktrittsangebot umgeht, überdeckt die weiteren Aufreger-Themen der vergangenen Monate: Da gab es Gutachten zum sexuellen Missbrauch in den Bistümern Münster, Osnabrück und Trier; da geriet im Februar beim Missbrauchsgutachten der Erzdiözese München-Freising auch der emeritierte Papst Benedikt XVI. in den Fokus.

Joseph Ratzinger stritt im Kern jede Verantwortung dafür ab, dass ein des Missbrauchs beschuldigter Priester erneut in der Seelsorge eingesetzt wurde. Zugleich musste der Emeritus nachträglich seine Aussage korrigieren – bei einer entscheidenden Sitzung war er nämlich doch anwesend.

Die Öffentlichkeit scheint ermüdet angesichts der Missbrauchs-Dauerschleife. Dass sich die Aufregung darüber legt, bedeutet dennoch nichts Gutes für die Kirche.

Neues Arbeitsrecht

Immerhin ist es den Bischöfen gelungen, das katholische Arbeitsrecht zu reformieren: In der im November beschlossenen neuen Grundordnung werden insbesondere die Anforderungen an die Lebensführung von Mitarbeitenden zurückgefahren.

Künftig soll die private Lebensgestaltung, insbesondere Beziehungsleben und Intimsphäre, keinen Anlass mehr für Entlassungen bieten. Als einzige Kündigungsgründe bleiben „kirchenfeindliches Verhalten“ und Kirchenaustritt.

Bischöfe gespalten

Unklar bleibt, ob der deutsche Reformprozess Synodaler Weg die Kirche voranbringen kann. Bei der vierten Synodalversammlung im September in Frankfurt wurde deutlich, dass selbst durch die Bischofskonferenz ein Riss geht, weil eine Minderheit ein Papier zur Reform der Sexualmoral ablehnte.

Der Passauer Bischof Stefan Oster erklärte, er halte die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Bischöfen für „kaum mehr versöhnbar“.

Deutsche Bischöfe in Rom

Wenig Mut machte der Ad-Limina-Besuch in Rom. Im Vatikan präsentierten die deutschen Bischöfe Mitte November ihre Anliegen. Und rannten nach Ansicht mancher Beob­­achter vor eine Mauer.

Bätzing sprach mit Sorgenfalten von der „Ungeduld des Gottesvolkes“. In katholischen Gemeinden, Verbänden und an theologischen Fakultäten hätten immer weniger Menschen Verständnis für die Position des römischen Lehramts in der Frauenfrage oder in der Sexualmoral. Auch die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Irme Stetter-Karp, erklärte nach dem Rom-Besuch der Bischöfe, ein „geduldiges Gottesvolk“ gebe es in Deutschland nicht mehr.

Noch ist offen, wie Papst und Kurie auf die Reformwünsche der unruhigen Katholikinnen und Katholiken in Deutschland reagieren. Sollte Rom die Tür für Veränderungen schließen und das schmächtige Pflänzchen der Reformhoffnungen ganz vertrocknen lassen, dürfte sich der Exodus hierzulande beschleunigen.

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