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Gemeinsam begreifen, was unglaublich ist: Wie konnten Priester Kinder missbrauchen? Wie konnte dies in der Kirche verschwiegen werden? Die Fragen stehen im öffentlichen Raum und belasten auch die Pfarreien, in denen sexueller Missbrauch möglich war. Die Pfarrei St. Gudula in Rhede geht mit dem Kunstprojekt „un_Glaub_lich“ gezielt in den öffentlichen Raum, um einen Beitrag zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs zu leisten.
Schweigend liest ein älteres Ehepaar die Zeilen, die auf einer großen Stellwand zu lesen sind: „Die Tür fällt dumpf ins Schloss, er ist wieder weg. Ich spüre nur noch Leere. Ganz leise fange ich an zu weinen. So leise, dass es niemand hört. Man sieht auch keine Tränen. Ich weine in mich hinein, in meine Leere. Bis meine kleine Seele darin ertrinkt.“
Es sind Worte, die Martin Schmitz vor etwa 50 Jahren geschrieben hat. 14 Jahre war er damals alt. In den 1970er-Jahren hat ihn Kaplan Heinz Pottbäcker, der in Rhede tätig war, missbraucht. Das Ehepaar aus Bocholt, das den Schriftimpuls auf dem Marktplatz im Schatten der Kirche St. Gudula in Rhede liest, ist ergriffen von den Worten: „Was hat die Kirche den Kindern nur angetan?“
Missbrauch im öffentlichen Raum darstellen
Viele Passanten auf dem Markplatz bleiben stehen, betrachten die zwölf großen Exponate mit den Schrift- und Bildimpulsen, lesen die knappen Sätze. Sie nähern sich dem, was sexueller Missbrauch durch Priester bewirken kann. Und sie kommen miteinander ins Gespräch.
„Bewusst wurde die Ausstellung im öffentlichen Raum gewählt“, sagt Thorsten Schmölzing, Pfarrer der Pfarrei St. Gudula. Sowohl die Selbsthilfe Rhede, in denen von Missbrauch Betroffene zusammenkommen, als auch die Pfarrei wünschten sich eine breite Auseinandersetzung, „damit der Missbrauch von Kindern in der Kirche nicht vergessen wird und damit Kinder innerhalb und außerhalb der Kirche Schutz erfahren“.
Kaplan wegen Missbrauchs verurteilt
Neben Schmölzing stehen Vertreterinnen und Vertreter der Pfarrei und Mitglieder der Selbsthilfe für Gespräche zur Verfügung. Und fast jeder, der die Exponate betrachtet, hat das Bedürfnis zu sprechen, über seine Verärgerung, seine Wut, seine Enttäuschung.
„Es ist Aufgabe der Pfarrei, über das zu sprechen, was geschehen ist“, sagt Schmölzing. In den 1970er-Jahren hatte Kaplan Heinz Pottbäcker, der in der Gemeinde Zur Heiligen Familie tätig war, nachweislich Kinder missbraucht. Vor und nach seinem Dienst in Rhede wurde er wegen sexuellen Kindesmissbrauchs verurteilt und dennoch weiterhin als Seelsorger im Bistum Münster eingesetzt.
Langer Weg der Aufarbeitung
Die Zahl der missbrauchten Kinder allein in Rhede schätzt Martin Schmitz auf mehr als 20. Schmitz hat vor einigen Jahren die Selbsthilfe Rhede gegründet, in der etwa zehn Betroffene zum Austausch zusammenkommen und über den Prozess der Aufarbeitung im Raum der Kirche sprechen.
„Der Aufarbeitungsprozess steht erst am Anfang“, sagt Schmitz. Er sei von den Kirchenleitungen enttäuscht über das, was bislang geschehen sei. Dagegen lobt Schmitz die Präventionsarbeit: „Hier handelt die Kirche vorbildlich. Daran können sich andere Institutionen ein Vorbild nehmen“, sagt Schmitz über die Präventionsschulungen gegen sexualisierte Gewalt, die in jeder Pfarrei des Bistums Münster durchgeführt worden sind.
Aufbrechen von Machtstrukturen
Schmitz beklagt dennoch die Machtstrukturen innerhalb der Kirche, die den Missbrauch möglich gemacht hätten. „Es gibt diese Machtstruktur, die so schwer zu durchbrechen ist. Sie ist bis heute existent“, sagt er.
Seit drei Jahren arbeitet Schmitz mit weiteren Betroffenen, Gremienmitgliedern der Pfarrei und Vertretern des Bistums Münster in einer Arbeitsgruppe zusammen, die einen Beitrag zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs in Rhede und in der Kirche leisten möchte.
Sprechen über das Unglaubliche
Die Arbeitsgruppe hatte die in Rhede lebende Künstlerin Christa Maria Kirch gewinnen können, ein Kunstprojekt über das schwierige Thema zu erarbeiten. Entstanden ist so die Ausstellung „un_Glaub_lich“.
„Die Exponate möchten dazu anregen, Gedanken über die Aufarbeitung des Kindesmissbrauchs auszutauschen und mit anderen zu begreifen, was unglaublich ist: dass Priester Kinder missbraucht haben und dass dies in der Kirche verschwiegen wurde“, sagt Christa Maria Kirch. Die Werke seien nach langen Gesprächen in der Arbeitsgruppe entstanden.
Schweigen der Hirten brechen
Herausgekommen sind so zwölf textile Objekte mit Kompositionen von Fotos und Texten. Fotografische Details von Kirchen wurden mit sprachlichen Begriffen und Schlagzeilen zum Themenkomplex ergänzt.
„Die Texte sind nur eine reduzierte Auswahl aus der Liste von sprachlichen Begriffen. Durch sie wird die Tragik der Vergangenheit lebendig mit der Absicht, das Schweigen der Hirten und der Verantwortlichen zu brechen“, sagt die Künstlerin.
Das „Gotteslob“ steht auf dem Kopf
Ein Beispiel ist das Exponat des Gebet- und Liederbuchs „Gotteslob“. In den Regalen mit Stapeln von Gebet- und Gesangbüchern formiert sich ein Kreuz aus der fortlaufenden Wiederholung der vier Wörter: Schuld, Täter, Scham und Opfer. Zum Motiv sagt Christa Maria Kirch: „Auffällig ist, dass in jedem der Fächer das Gotteslob jeweils drei Mal auf dem Kopf steht. Dahinter steckt die Frage: Was muss sich da drehen? Braucht die Kirche einen Perspektivwechsel?“
Die Künstlerin betrachtet ihre textilen Objekte als vorläufig: „Es ist der prozesshafte Versuch, wachzurütteln, die verkrampfte und verlogene Sexualmoral der katholischen Kirche in Frage zu stellen, und es ist ein Appell, die Verantwortung für die Vertuschung von Verbrechen in vollem Umfang zu tragen.“
Projekt ein Vorbild für andere Pfarreien
Nach Ansicht von Pfarrer Schmölzing kann das Kunstprojekt im öffentlichen Raum auch zu einer Wanderausstellung werden. „Pfarreien, in denen ebenfalls eine Aufarbeitung zu geschehen hat, können unser Projekt möglicherweise übernehmen.“
Schon die ersten Tage der Präsentation hätten gezeigt, dass nach wie vor ein enormer Diskussionsbedarf bestehe: „Dabei ist es wichtig, sexuellen Missbrauch nicht nur im Kirchenraum oder im Pfarrheim und damit in geschlossenen Sälen zu thematisieren. Wir brauchen eine Enttabuisierung. Daher der öffentliche Raum“, sagt Schmölzing.
Gemeindevertreter stehen Rede und Antwort
An mehreren Tagen der bis zum 24. September gezeigten Ausstellung werden Mitglieder der Selbsthilfegruppe und Vertreterinnen und Vertreter der Pfarrei an den Exponaten Rede und Antwort stehen und für Gespräche bereitstehen. Mit dabei sind unter anderem die engagierten Gemeindemitglieder Maria Leiting und Pfarreiratsmitglied Stephanie Weidemann, denen es wichtig ist, den Prozess der Aufarbeitung auch auf Gemeinde-Ebene zu führen.
„Wir müssen die Sprachlosigkeit überwinden und zeigen, dass die Gemeinden an der Seite der Betroffenen stehen“, sagt Leiting. Nach Ansicht von Weidemann zeigt die Ausstellung das „ehrliche Bemühen, in der Aufarbeitung voranzukommen“.
Angebote für Gespräche
Eine Terminübersicht über die Gesprächsangebote gibt es unter www.st-gudula.de. Wer Interesse an Gruppenführungen hat, kann sich im Pfarrbüro St. Gudula melden.