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Martin S. aus Rhede ist der Betroffene, der die öffentliche Auseinandersetzung mit den Taten von Kaplan Heinz Pottbäcker anstieß. Er will, dass die Namen aller Verantwortlichen öffentlich gemacht werden.
Er röstet und mahlt seinen Kaffee selber in professionellen Maschinen. Ebenso bedient er den großen Espresso-Automaten in dem modern eingerichteten Dachgeschoss des Einfamilienhauses in Rhede. Hier stehen Designermöbel. Kein Wunder – ist er doch Tischler und hat einige Semester Architektur studiert. Vieles fertigt er in seiner Werkstatt selbst. Das ganze Haus, in dem er mit seiner Frau und dem jüngeren seiner beiden Söhne wohnt, trägt seine Handschrift. Hier lässt es sich gut leben.
Kaum zu glauben, aus welch menschlichen Abgründen heraus sich Martin S. das alles aufgebaut hat. Er war neun Jahre alt, als ihn der damalige Kaplan Heinz Pottbäcker in der Pfarrgemeinde Zur Heiligen Familie in Rhede das erste Mal sexuell missbrauchte. Nicht nur anzügliche Worte, falsche Berührungen oder übergriffige Liebkosungen waren das. „Es war schwerster Missbrauch“, sagt der 57-Jährige. Doch das Erlebnis im Ferienlager war nur der Anfang einer etwa zweijährigen Tortur, in der der Heranwachsende immer grausamere Handlungen über sich ergehen lassen musste.
Martin S. war machtlos
Martin S. spricht angenehm ruhig. Seine Espressotasse schiebt er manchmal auf dem langen Designertisch hin und her. Sonst zeigt er kaum ein Anzeichen von Nervosität, er wirkt aufgeräumt. „Im Augenblick geht es mir einigermaßen gut“, sagt er. Alles andere kann er hinter einer Fassade verstecken, die er über Jahrzehnte aufgebaut hat. Er musste das tun, um an dem Erlebten nicht zu zerbrechen. Denn die Taten von Pottbäcker hatten das Fundament aus Vertrauen, Mut und Selbstbewusstsein zertrümmert, mit dem ein Junge am Ende der Grundschulzeit ins Leben starten sollte. Verbrechen, die im Pfarrhaus geschahen, auf Freizeiten, im Jugendheim. Immer wieder, immer abscheulicher.
Die Erinnerungen holen Martin S. immer wieder ein. | Foto: Michael Bönte
Er war machtlos. Martin S. konnte sich nicht wehren. Das hatte viele Gründe. Die ihm erst bewusst werden konnten, als er vor einigen Jahren begann, die Ereignisse mit professioneller Hilfe aufzuarbeiten. Vorher herrschten die Gefühle der Schuld und Ohnmacht. „Ich konnte das in meiner Kindheit nicht in Frage stellen.“ Zu wichtig war ihm seine Freizeit in der Messdienergruppe. „Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, meine geliebten Gruppenstunden und Freizeiten aufzugeben und mich aus den Angeboten der Pfarrgemeinde zurückzuziehen.“
Mit der Grausamkeit isoliert
Wie arglistig Pottbäcker seine Gefühlslage ausnutzte, ist erschreckend. Das ist Martin S. heute noch anzumerken, wenn er darüber spricht. Die Espressotasse vor ihm wechselt einige Male die Position. Er kneift seine Augen etwas zusammen, seine Stimme wird hart. „Ich habe doch zu ihm aufgeschaut, er war beliebt, lustig, riss uns alle mit.“ Nicht nur Martin S. sah das so. Alle in der Pfarrei taten das. „Wie hätte ich die Idee haben können, ihn als Verbrecher zu sehen?“
Nein, wenn sich einer schuldig fühlte musste, dann nur er selbst. Ekel und Angst vor den Übergriffen des Geistlichen waren allein sein Problem. Das war das Gefühl des jungen Martin. Als er ein einziges Mal allen Mut zusammennahm, um Pottbäcker zu sagen, dass ihm das alles nicht gefiel, wurde es nur schlimmer. „Gott findet eine Liebe wie die unsere toll“, habe der Kaplan zu ihm gesagt. „Lass uns das als unser wunderbares Geheimnis wahren.“ Martin S. war mit der Grausamkeit komplett isoliert.
Verstörende Berichte aus dem Leben vom Martin S.
Was diese Erlebnisse mit ihm gemacht haben? Die ruhige Art, mit der Martin S. darüber spricht, passt nicht zu der Wucht seiner Worte. Er fängt an dem Tag an, als Kaplan Pottbäcker aus der Pfarrei verschwand. Die Episoden sind traurig, erschreckend, Angst einflößend. Etwa jene vom Gymnasiasten Martin, der sich immer weiter zurückzog, stundenlang auf Brücken stand und überlegte, ob er springen sollte. Der diesem dunklen Gedanken einmal folgte, als er sich von einem Silo stürzte. „Ein Kieshaufen rette mir das Leben.“
Spiegelung im Fenster: Martin S. blickt in einer dunkle Vergangenheit. | Foto: Michael Bönte
Oder jene Episode vom Studenten Martin S., der sich nach seiner Tischlerlehre in Kassel für Architektur eingeschrieben hatte. Vier Semester studierte er begeistert, bis er einem Mann begegnete, der ihn von der Haltung, von der Sprache oder von der Gestik an Pottbäcker erinnerte. Genau weiß er das nicht mehr. „Ich verließ sofort die Uni, packte meine Sachen und reiste einige Jahre durch Amerika.“ Ein innerer Druck ließ ihn in solchen Momenten regelrecht explodieren. „Woher dieser Druck kam, war mir nicht bewusst.“ Weil er ein Könner des Verdrängens wurde. Die Geschehnisse sperrte er tief in sein Unterbewusstsein. „Eine ständige Auseinandersetzung hätte ich nicht überlebt.“
Ein kleiner Impuls reichte und er brach zusammen
Wurde seine Erinnerung aber angestoßen, brach es regelrecht über ihn herein. Wie 1998, als er nach langer, stabiler Phase, in der er seinen Betrieb aufbaute und heiratete, Vater wurde. „Ich konnte keine echte Beziehung zu meinem Sohn aufbauen, körperliche Nähe war unmöglich.“ Sein Kind hatte seine eigene Kindheit wach gerufen. „Ab da ging es kontinuierlich bergab.“
Nach und nach verstärkten sich die Symptome. Zu Angstattacken kamen Schlaflosigkeit, Depressionen, Suizidgedanken. „Ich bin mit 180 über die Autobahn gefahren, habe die Augen geschlossen und bis fünf gezählt.“ Am Schlimmsten aber waren die „Flashbacks“ – jene Momente, in denen Martin S. die Situationen des Missbrauchs wiedererlebte. „Plötzlich stand Pottbäcker wieder vor mir, und es geschah wie in Wirklichkeit – mit allen Gefühlen, Gerüchen und Geschmäckern“, sagt er.
Martin S. kämpfte immer gegen die Wahrheit
Er kämpfte dagegen an. Leugnete seine Situation, biss sich durch, baute seine Fassade aus. Ein harter Kampf gegen die Wahrheit war das. 2012 dann der endgültige Zusammenbruch. „Ich fiel von einer Ohnmacht in die andere.“ Die Familie zog die Reißleine: Ärzte, Medikamente, Therapie.
Martin S. braucht immer wieder Hilfe und Zeit zum Nachdenken. | Foto: Michael Bönte
Das war ein wichtiger Schritt, aber nur der erste. Viele Aufs und Abs folgten, bis die Symptome schwächer wurden und er mit der Aufarbeitung beginnen konnte. Ein Teil davon: „Den Mut finden, mir meinen Lebensweg bewusst vor Augen zu führen – mit allen Handlungen, beteiligten Personen und Orten.“ Es waren Kraftakte, wieder dorthin zu gehen, wo die Verbrechen ihren Anfang genommen hatten. „Als ich dafür das alte Pfarrhaus betrat, reichte ein Gluckern der Heizung, das mich an früher erinnerte und alles wieder lostrat.“
Verantwortliche müssen etwas gewusst haben
Es kam eine weitere Belastung dazu, aus der er bis heute einen massiven Vorwurf formuliert: „Der Umgang der Verantwortlichen in der Kirche mit den Ereignissen damals wie heute.“ Martin S. wurde immer mehr bewusst, wie die Bistumsleitung die Vergehen Pottbäckers vertuscht hatte. Das sei ein Stück strukturell und atmosphärisch bedingt gewesen, sagt er. „Damals war es in Klerikerkreisen vielleicht gängig, so zu handeln.“ Was aber niemanden aus der Schuld entlasse: „Jeder Seelsorger, der die Fakten kannte und bei gesundem Menschenverstand war, muss auch 1970 schon gewusst haben, welche Straftaten er mit seinem Verhalten unterstützte.“ Martin S. schaut kurz auf seine Espresso-Tasse, bevor er deutlich und langsam spricht: „Deshalb sind auch diejenigen Verbrecher, die ihn weiter in der Seelsorge eingesetzt haben, obwohl seine Taten bekannt waren.“
Aber muss das deswegen heute mit allen Details auf den Tisch? Reicht es nicht, die Schuld der Kirche zu benennten und die Verstorbenen in Ruhe zu lassen? Es ist zu spüren, dass Martin S. diese Fragen nicht zum ersten Mal hört. Denn sein „Nein“ kommt sofort mit einer Begründung. „Das wären Halbwahrheiten, es wäre unehrlich.“ Ihm geht es nicht um Genugtuung, nicht darum, das Lebenswerk eines damaligen Bischofs oder Generalvikars in Frage zu stellen, sagt er. „Aber zu Fehlern gehören immer Menschen, die sie getan haben – und zu allen Menschen gehören auch ihre Fehler.“
Ärger über Verhalten des Bistums auch in jüngster Zeit
Deshalb muss in den Augen von Martin S. nicht nur der Name Pottbäcker genannt werden, sondern auch die Namen der damaligen Verantwortlichen. „Das ist eine ganz andere Dimension des Schuldbekenntnisses.“ Je genauer die Missbrauchssituation öffentlich werde, desto mehr Druck werde von den Betroffenen genommen. „Es holt uns aus der Ohnmacht, macht uns handlungsfähig, stärkt unsere Position.“
Ein nachdenklicher Martin S. auf der heimischen Treppe. | Foto: Michael Bönte
Umso mehr ärgert Martin S. das Verhalten der Verantwortlichen in den vergangenen Jahren. Schon früh machte er sich auf, um klarzustellen, was er von der Kirche fordert. „2012 habe ich Kontakt zum Bistum Münster aufgenommen.“ Damals füllte er den „Antrag auf Anerkennung des Leids“ aus. Eine „Retraumatisierung“ sei das gewesen, die ihm zwei Wochen gekostet habe. Er bekam 8.000 Euro zugewiesen. „Das war's. Unerträglich.“
„Mein Anliegen wurde verschleppt“
Denn öffentlich gemacht wurde nichts. Auch in den folgenden Jahren nicht, in denen er immer wieder nachhakte, auch über die Pfarrer in Rhede. „Es wurde einfach verschleppt.“ Erst als er in der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in Berlin seine Geschichte erzählte, habe es endlich eine Reaktion gegeben, die in die öffentliche Veranstaltung in Rhede zum Thema Pottbäcker vor einigen Wochen gemündet sei. „Ich hoffe, dass die dortigen Versprechen eingehalten werden – dass weitere Nachforschungen gemacht und weitere Namen genannt werden.“
Martin S. hat in den vergangenen Jahren immer mehr Mut gefasst. Künftig will er selbst öfter öffentlich seine Geschichte erzählen und seine Vorwürfe formulieren. Anderen Betroffenen will er Hilfe anbieten. Das tut er bereits im Internet und sagt, dass er am Tag manchmal mehrere Stunden Telefonate mit Menschen führt, die Ähnliches wie er erlebt haben. „Da kommt in der nächsten Zeit noch viel an die Oberfläche – auch im Bistum Münster.“ Er weiß, dass die Opfer einen ähnlich schweren Weg gehen müssen, wie er ihn gegangen ist. „Hoffentlich mit mehr Unterstützung von der Kirche als bisher.
Haben Sie Suizidgedanken? Hier gibt es Hilfe
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