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Fälle sexuellen Missbrauchs in Institutionen aufzuklären, gestaltet sich laut dem Münchner Juristen Ulrich Wastl wegen der Abhängigkeit von Zeugen und Tätern gegenüber Verantwortlichen schwierig. Solche Abhängigkeiten könnten in Einzelfällen sogar zu Erpressbarkeit der Zeugen und Verantwortlichen führen, sagte er dem Evangelischen Pressedienst. Ein generelles Problem sei auch, dass sich bei solchen internen Ermittlungen regelmäßig zwei Lager gegenüberstünden: einmal diejenigen, die jegliche Aufklärung aus verschiedenen Motiven torpedieren wollten.
Auf der anderen Seite diejenigen, die rückhaltlose Aufklärung für zwingend geboten hielten. Oftmals komme der Druck für interne Untersuchungen in Organisationen auch von außen.
Betroffenen geschützten Raum bieten
Ausgangspunkt jeder Aufarbeitung im Bereich des sexuellen Missbrauchs müssten aber die Betroffenen sein, sagte Wastl. Die Ermittler müssten deren zumeist traumatische Erlebnisse offen wahrnehmen. Damit sich die Betroffenen offen äußern könnten, müsse für sie „ein in hohem Maße geschützter Raum“ geschaffen werden.
Außerdem müssten die Untersuchungsführer im größtmöglichen Maß unabhängig von der jeweiligen Organisation sein. Ulrich Wastl war einer der Anwälte der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW), die das im Januar veröffentlichte Missbrauchsgutachten für das Münchner Erzbistum erstellt hatten.
Kirchen an eigenen Maßstäben messen
Warum gerade die Kirchen beim Thema sexuellem Missbrauch so im Fokus stehen, wird laut Wastl aus diversen Gutachten deutlich. Gerade die beiden Kirchen predigten vor allem in der Kinder- und Jugendarbeit zurecht höchste moralische Grundsätze. „Die Fallhöhe ist dann im Falle eines sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen im kirchlichen Umfeld naturgemäß besonders hoch und die öffentliche Reaktion hierauf mit Fug und Recht entsprechend“, sagte Wastl. Eine Aufarbeitung, die sich nur auf juristische Fragen beschränke, mache daher von vornherein keinen Sinn. „Die Kirchen müssen sich gerade auch bei diesem Thema an ihren eigenen Maßstäben messen lassen.“
Die Kirchen seien aber mit dem Thema „sexueller Missbrauch“ nicht allein, sagte Wastl. Eine Wagenburgmentalität infolge eines besonderen Korpsgeistes sei nicht nur auf Kirchen beschränkt.
Missbrauch im Erzbistum München und Freising
Derartige Phänomene seien beispielsweise auch im militärischen und polizeilichen Bereich nachgewiesen worden. Für das Münchner Missbrauchsgutachten hatte die Kanzlei WSW Fälle sexuellen Missbrauchs im Erzbistum München und Freising in den Jahren 1945 bis 2019 untersucht. Dabei fanden sie Hinweise auf mindestens 497 Betroffene und 235 Täter, davon 173 Priester. Die Gutachter gehen von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus.