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Polizeiseelsorger Michael Arnemann ist nicht nur Ansprechpartner für die Studierenden an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster-Hiltrup. Er ist auch Ethik-Dozent.
Sein Büro in Haus B liegt unter einer Dachschräge. Auf dem Campus der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster-Hiltrup muss sich der Besucher durchfragen, bis er das Zimmer im 3. Stock findet. Ein kleiner Raum mit Schreibtisch, einem Regal und einer Sitzecke – ein wenig wirkt das wie ein einfaches Studentenzimmer.
Zu Michael Arnemann passt diese Zurückhaltung. In einer Welt, in der Dienstgrade und Zuständigkeiten den Alltag strukturieren, steht er etwas außerhalb der Reihe. Im besten Sinn: Als Diözesanbeauftragter der Polizeiseelsorge im Bistum Münster bringt er eine andere Perspektive in den universitären Alltag.
Ihm geht es nicht um Deutungshoheit
„Ich bin nicht hier, um Religionsunterricht zu geben“, sagt der 55-Jährige. Der Pastoralreferent und promovierte Pastoraltheologe ist Lehrbeauftragter für Ethik und Berufsethik. „Es geht nicht um eine Deutungshoheit aus dem christlichen Glauben heraus.“ Zu den vielseitigen Lebenswegen der Studierenden, die in der Hochschule Station machen, passt das in seinen Augen nicht: „Wenn ich vermitteln würde, dass Christen die besseren Antworten auf die Herausforderungen des Polizeidienstes haben, würde das sicher auf Widerstand stoßen.“
Es gibt aber einen gemeinsamen Nenner. Einen von allen anerkannten Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit den ethischen Fragen der Polizisten. „Es geht um die Würde des Menschen“, sagt Arnemann. „Ich kenne keinen anderen Beruf, in dem man sich so häufig damit beschäftigen muss.“ Der Begriff beinhaltet für die Polizei eine große Spannung. „So wunderbar er ist, so verwundbar erleben die Beamten ihn im Arbeitsalltag.“ Dort, wo sie im Einsatz sind, ist die Menschenwürde oft in Gefahr. „Situationen von Vernachlässigung, Bedrohung, Verletzung, Gewalt oder Erniedrigung gehören zum Arbeitsalltag.“
Der Freund und Helfer
Das bringt automatisch Fragen nach Möglichkeiten, Sinn und Ziel der Polizeiarbeit auf die Tagesordnung. Bei der Suche nach Antworten tut sich ein weites Feld auf, weiß Arnemann. „Der Freund und Helfer – jeder definiert den Einsatz für Menschenwürde dabei individuell.“ Es sind Definitionen, die sich immer weiter entwickeln. Er erinnert sich an den Satz einer Studentin, der das gut beschreibt: „Durch jede Verletzung, die wir erleben, kommen wir dem Kern etwas näher.“
Es wäre fahrlässig, diesen Prozess mit einem christlichen Anstrich zu überpinseln, sagt Arnemann. „Ich muss dabei die katholische Seelsorger-Jacke ausziehen können und wissen, dass mein Glaube nur eine von vielen Sichtweisen in der Diskussion ist.“ Die durchaus wichtig ist und gehört werden soll. Das betont er. „Aber nicht mit dem Anspruch der Deutungshoheit.“ Da ist sie wieder, jene Zurückhaltung, die ihm aber auch Türen öffnet. Die Wirkung hat er schon oft erlebt. „Es wird als sympathisch wahrgenommen, wenn wir unseren Blick nicht über andere Meinungen stellen.“
Es gibt Vorbehalte gegenüber der Polizei-Seelsorge
Wie kommt es, dass er hier sitzt und sich gemeinsam mit den Anwärtern für den höheren Polizeidienst solche Gedanken macht? Sein Vater war Polizeihauptkommissar. Das half Arnemann, Vorbehalte gegenüber der Seelsorge in diesem Bereich zu überwinden. „Die gibt es durchaus“, sagt der gebürtige Lüdinghausener. „Nicht viele Seelsorger haben diesen Arbeitsbereich im Blick.“ Bei ihm rückte er in den Fokus, als während seines Theologiestudiums in Vechta ein Sozialpraktikum anstand. Ihm wurde ein Platz in der dortigen Justizvollzugsanstalt angeboten.
„Die Frage nach dem Umgang mit Schuld und Vergebung interessierte mich“, sagt Arnemann. „Wie funktioniert das in einem staatlichen System – und was kann Kirche tun?“ Als er zum ersten Mal den Schlüssel zu den Zellen in der Hand hielt und durch die vielen Sicherheitstüren ging, betrat er mit Spannung eine völlig neue Welt. „In der ich sofort ganz nah an den Menschen und ihren Schicksalen war – sowohl der Gefangenen als auch der Justizvollzugsbeamten.“ Schnell wurde ihm zurückgemeldet, wie gut es war, dass er als Seelsorger anders ansprechbar war als Kollegen oder Vorgesetzte. „Unabhängig und verschwiegen.“
Ausstellung zum belastenden Situationen
Seine Erfahrungen stießen weitere Gedanken an. „Das Böse, die Bestrafung, Verantwortung, Fürsorge…“ Arnemann kann schnell eine Vielzahl von Begriffen nennen, mit denen er sich auf seinem weiteren Weg immer wieder beschäftigen sollte. Auch in Selm-Bork, wo er am Polizei-Ausbildungs-Institut als Dozent im Einsatz war.
Mit anderen Seelsorgern baute er dort den „Grenzgang“ auf, eine große Ausstellungsfläche, auf der sich die jungen Polizeidienstanwärter mit Themen wie Gewalt, Umgang mit Randgruppen oder Extremsituationen wie Tod und Sterben auseinandersetzen. „Wer sich für das Gute einsetzt, wird dem Bösen begegnen“, steht dort an einer Wand. Ein Satz, der auch heute noch Ausgangspunkt für viele seiner Gespräche mit den Beamten und Beamtinnen ist.
Im Gespräch kommt alles auf den Tisch
Seit 2014 leitet er die katholische Polizeiseelsorge im Bistum Münster und hat sein Büro in der Polizeihochschule in Hiltrup. Neben seinen Aufgaben als Organisator und Dozent ist er immer eins geblieben, sagt er: „Persönlicher Ansprechpartner.“ Zu dem die Studierenden mit allen Fragen und Sorgen kommen können. „Da ist alles dabei – Ängste und Nöte, Sinnsuche und Zweifel, Wut und Verzweiflung.“
Dann ist er Seelsorger im eigentlichen Sinn. Wenngleich nur noch die wenigsten kommen, weil er ein „katholisch“ davor stehen hat. Die Zeiten sind vorbei, sagt er. „Nur wenige haben noch einen lebendigen kirchlichen Hintergrund.“ Gottesdienste oder die Arbeit in Glaubensgruppen gibt es so gut wie gar nicht. „Ich bin getauft“, hat mal eine Studentin in einem Seminar gesagt. Sie machte eine kurze Pause, atmete tief durch und sagte dann: „So, jetzt ist es raus.“
Katholisches Outing
Was wie ein katholisches Outing war, zeigte Arnemann deutlich: Es ist wichtig, sich im Netz weiterer Hilfsangebote von Ärzten, Psychologen und Sozialarbeitern als eine von vielen Möglichkeiten zu sehen, Antworten auf Lebensfragen zu finden. „Wie ein Spezialdienst“, sagt er schmunzelnd. „Mit unserer eigenen katholischen Sichtweise.“ Die „Seelsorge-Jacke“ hat er dann wieder angezogen.
Was nicht heißt, dass nur jene zu ihm kommen, die bereits einen christlichen Hintergrund haben. „Für viele ist das hier ein Erstkontakt zum Glauben.“ Arnemann bekommt die Rückmeldung, dass die Gespräche mit ihm ein oft völlig neues Erlebnis sind. „Ich hatte noch nie so viel Kontakt zu einem Seelsorger wie jetzt“, sagte ihm einmal ein Polizist.
Er schafft einen Schutzraum
Er schaffe in diesen Situationen etwas enorm Wichtiges, sagt Arnemann: „Einen Schutzraum für Schutzmänner und -frauen.“ Das muss nicht der unter dem Dach in Haus 2B sein. „Das geht auch in der Cafeteria oder beim Spaziergang über den Campus.