Doris Wiese-Gutheil über katholischen Pragmatismus

Unser Klerikalismus: Starren auf Rom wie ein Kleinkind auf seine Eltern

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Ob Frauen, Sexualmoral oder päpstliche Äußerungen über einen Klaps auf den Po: Wir regen uns viel zu viel darüber auf, was der Vatikan von sich gibt. Sagt Journalistin Doris Wiese-Gutheil in ihrem Gast-Kommentar.

Meine Söhne sind erwachsen, sie leben ihr eigenes Leben und treffen ihre eigenen Entscheidungen. Natürlich halten wir Eltern da manchmal die Luft an, aber letztlich ist es ihre Wahl, ob sie uns um Rat fragen oder einfach machen, was sie wollen. Ihre Entscheidung – und unsere Gewissheit, dass wir ihnen Werte und Fähigkeiten mitgegeben haben, ihr Leben eigenverantwortlich und als anständige Menschen zu führen.

Aber warum ist das in der Kirche gerade anders? Warum schielen wir als mündige Christen immer noch nach Rom, zu den Bischöfen, auf den Pfarrer? Ich erinnere mich an Zeiten, da waren auch fromme Katholiken pragmatischer: Rom ist weit weg, wir treffen unsere Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen schon selbst, sei es in der Sexualmoral, in der Erziehung, bei politischen Wahlen. Und in die Schlafzimmer haben wir uns schon gar nicht schauen lassen.

Abseits jeder Lebensrealität

Die Autorin
Doris Wiese-Gutheil lebt als Journalistin in Frankfurt am Main. Sie hat 16 Jahre die Öffentlichkeitsarbeit der dortigen katholischen Stadtkirche verantwortet, ist Mitglied im Vorstand der Gesellschaft katholischer Publizistinnen und Publizisten und in der Medienpolitischen Kommission des Katholischen Deutschen Frauenbundes.

Doch da hat sich etwas verändert, und nicht zum Guten, wie ich meine. Wir starren auf Rom wie das berühmte Kaninchen auf die Schlange. Wir warten ständig auf Lob und Zustimmung wie das Kleinkind auf die Bestätigung durch die Eltern. Was im Vatikan geäußert wird, und sei es noch so abseits jeder Lebensrealität, wird plötzlich wieder viel ernster genommen als in den letzten 50 Jahren.

Ein Segen für Homosexuelle? Rom irrlichtert herum, und wir sind starr vor Entsetzen. Frauen haben nicht dieselben Rechte wie Männer? Wir ducken uns weg und sagen lieber nichts. Rom erkennt unsere (Ent-)Scheidung nicht an? Wir lassen uns vom Tisch des Herrn verweisen. Der Papst vergleicht Gottes strafende Hand mit einem Klaps auf den Po? Wir schreien empört auf und verweisen auf die moderne Pädagogik.

Banales und Bedeutsames

Die Klagen über Klerikalismus in unserer Kirche sind groß, zu Recht. Aber wenn uns jede römische Einlassung aus dem Konzept bringt, wenn wir ängstlich auf den Papst starren, statt unsere eigene Gewissenserforschung zu betreiben, stützen wir dann nicht genau diesen Klerikalismus, den wir doch so verabscheuen? Egal, ob so Banales wie der Klaps oder so Bedeutsames wie die Segensfeiern, ein bisschen mehr Gelassenheit und nicht dieser ständige Blick „auf Rom“ täten uns gut.

Handeln wir einfach, wie unser Glaube es uns eingibt, das christliche Rüstzeug haben wir längst. Dann ist Gott gewiss mit uns zufrieden. Und die alten Männer im Vatikan werden es auch irgendwann verstehen. Und wenn nicht? Ganz ehrlich: Rom ist weit, wir sind weiter!

In unseren Gast-Kommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

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