Mainzer Moraltheologe zum neuen Vatikan-Papier über Menschenwürde

Unterkomplex bis ärgerlich: Experte Goertz analysiert "Dignitas infinita"

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Der Vatikan hat heute ein umfassendes Dokument über die Menschenwürde veröffentlicht - mit einer Fülle von Themen. Der Mainzer Moraltheologe Stephan Goertz analysiert das Dokument exklusiv für Kirche+Leben. Er hätte sich etwas mehr Bescheidenheit gewünscht. 

Unter der etwas ungewöhnlichen Überschrift „unendliche Würde“ bietet die Vatikanische Erklärung über die Menschenwürde eine kompakte Zusammenstellung diesbezüglicher lehramtlicher Äußerungen seit den 1960er Jahren. Die Fülle der Fußnoten belegt, dass es vor allem darum geht, die eigenen Lehraussagen (vor allem der Päpste) noch einmal gebündelt zusammenzustellen. Neue, weiterführende theologische Aussagen oder ethische Positionierungen waren offenkundig nicht beabsichtigt. 

Das Dokument wiederholt die bekannte römische Auslegung der Menschenwürde, was ihre theologische Fundierung wie ihre moralischen Implikationen betrifft. Dabei fällt (wieder einmal) auf, dass für die Begründung der Würde des Menschen dessen Freiheit keinen zentralen Stellenwert besitzt. Das ist angesichts der theologischen und philosophischen Tradition unverständlich, verfolgt aber vermutlich die Absicht, die aus der Menschenwürde resultierenden Freiheitsrechte der Person nicht zu stark gewichten zu wollen. Kurz: Von einer Autonomie-Würde im neuzeitlichen Sinne ist keine Rede. 

Wo bleibt die Freiheit?

Stattdessen bezieht sich die „ontologische Würde“ stark auf die dem Menschen eigene Natur, auf die sich der Mensch in seiner Freiheit beziehen soll. Dass die Natur der Menschen aber nicht ohne seine personale Freiheit gedacht werden kann, wird nicht eigens reflektiert. 

Der benutzte Würdebegriff ist bei aller guten Differenzierung im ersten Teil und allem Wortreichtum deshalb doch zum Teil unterkomplex. Es wird gar der Eindruck erweckt, Würde sei ein genuin biblischer Begriff, was jedoch nicht stimmt. Und historisch lässt sich nicht behaupten, dass das Christentum oder die Kirche stets auf der Seite der Menschenwürde (in unserem heutigen Verständnis) gestanden hätte. Dass es hier einen langen und mühsamen Lernprozess gegeben hat, der sicher nicht abgeschlossen ist, kommt nicht in den Blick. 

Ein bisschen Selbstkritik

Beim Thema Menschenwürde/Menschenrechte stünde dem katholischen Christentum ein Mehr an Bescheidenheit und Selbstkritik gut an. Lediglich zu einer spärlichen Aussage über sexuellen Missbrauch (Nr. 43) konnte man sich durchringen.

Mit Franziskus werden eine Reihe sozialethisch einschlägiger Themen der Gegenwart (Armut, Migration, Frieden, Umwelt) unter dem Dach der Menschenwürde moralisch bewertet. Die Kürze der Abschnitte erlaubt dabei keine vertiefte Entwicklung der Argumente. Es geht eher darum, die eigene Positionierung in Erinnerung zu rufen.

Jahrzehntelanger Kampf

Relativ breiten Raum nimmt die Abgrenzung gegen eine „willkürliche Vermehrung neuer Rechte“ (Nr. 25) ein. Gemeint sind dabei jene Rechte, die im Bereich der menschlichen Beziehungsgestaltung (Ehe, Familie), Sexualität, Reproduktion oder Medizin (Abtreibung, Sterbehilfe) auf Positionen beruhen, die von der tradierten katholischen Morallehre abweichen. 

Hier verbirgt sich der jahrzehntewährende Kampf des Vatikans gegen liberale Selbstbestimmungsrechte, denen ein falsches Freiheitsverständnis vorgehalten wird, weil sie die vorgegebene Natur des Menschen nicht genügend beachten würden. 

Deplatziertes zu “Gender-Theorie”

Deutlich wird diese Zurückweisung von Selbstbestimmungsrechten bei den Themen rund um die menschliche Geschlechtlichkeit. Der Würdebegriff verliert seine Klarheit, wenn in diesem Zusammenhang von der Würde der ehelichen Vereinigung (Nr. 49) die Rede ist. Beim Thema Sterbehilfe droht die Heiligkeit des Lebens dessen Würde in den Hintergrund zu drängen. Mit der Gefahr, vitalistisch und nicht mehr personalistisch zu argumentieren.

Ein echtes Ärgernis ist die deplatzierte Einordnung der „Gender-Theorie“ unter die schweren Verstöße gegen die Menschenwürde (Nr. 55). Wie soll unter diesem Vorzeichen eine auch nur ansatzweise seriöse Auseinandersetzung stattfinden? In diesem Bereich scheint sich der Vatikan kulturkämpferisch entschieden zu haben: Hinsichtlich der eigenen Geschlechtlichkeit haben sich die Menschen in das Korsett der sogenannten traditionellen Werte schnüren zu lassen, das heißt menschenrechtliche Ansprüche sexueller Minderheiten werden mit keiner Silbe der Würdigung für wert erachtet. 

Wem der Text in die Hände spielt

Immerhin aber wird die Kriminalisierung und Verfolgung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung angeprangert (Nr. 55). Der undifferenzierte Vorwurf der „ideologischen Kolonisierung“ durch „die Gender-Theorie“ spielt hingegen denjenigen in die Hände, die liberale Freiheitsrechte sexueller Minderheiten als Angriff auf eine patriarchale, heteronormative Ordnung begreifen. Das Dokument löst diesen Widerspruch nicht auf.

Der Abschnitt zur Geschlechtsumwandlung (Nr. 60) ignoriert das Leiden und die berechtigten Interessen von Transmenschen und erinnert sie an die „Achtung der natürlichen Ordnung“. Eine Veränderung im Bereich der Geschlechtlichkeit erscheint einseitig als Gefahr für die menschliche Würde. Zu erklären ist diese Negierung menschlicher Erfahrungen nur durch das Beharren auf einer Anthropologie, die übersieht, dass der Mensch von Natur aus seine eigene Natur kulturell und sittlich zu gestalten hat. 

Moraltheologisches Rätsel

Mit dem gleichen Argument, das hier benutzt wird, wird etwa Homosexuellen die Fähigkeit abgesprochen, ihre Sexualität auf humane Weise ausleben zu können. Wie dies mit der Menschenwürde Homosexueller in Einklang zu bringen ist, bleibt moraltheologisch ein Rätsel.

Verletzungen der Menschenwürde mit den theologisch und ethisch stärksten Worten zu brandmarken, diesem Anliegen wird aus theologisch-ethischer Sicht niemand etwas entgegenhalten wollen. Dass sich das katholische Christentum der Menschenwürde verpflichtet sieht, ist ein religionspolitisch wertvoller Beitrag zum globalen Zusammenleben. 

Der größte Schwachpunkt

Am Ende sehe ich den größten Schwachpunkt in der vorgenommenen Gewichtung der Themen. Wäre es angesichts der globalen Angriffe auf freiheitliche Gesellschaften nicht an der Zeit, die demokratische, rechtstaatliche politische Ordnung nachdrücklicher als die relativ beste staatliche Garantie des Schutzes von Menschenwürde christlich zu verteidigen? 

Oder gelingt dies nicht, weil man sich bewusst ist, dass gemessen an demokratischen Standards die eigene Kirchenstruktur unter erheblichen Rechtfertigungsdruck gerät? 

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