Arzt Michael Frosch über seine „extrem sinnstiftende Arbeit“ im Kinderpalliativzentrum Datteln

Wenn Kinder sterbenskrank sind, was heißt da "Lebensqualität", Herr Doktor?

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Michael Frosch, Oberarzt im Kinderpalliativzentrum Datteln, hat jahrelang schwerstkranke Kinder und Jugendliche begleitet. Für den gläubigen Christ rückblickend eine überaus erfüllende Zeit. Warum das so ist und was Lebensqualität für junge Patienten bedeutet, die sterbenskrank sind, hat er "Kirche-und-Leben.de" als frisch gebackener Ruheständler erzählt.

Eine unerwartet positive Geschichte ist Michael Frosch besonders präsent geblieben: Die des neunjährigen Magnus* (Name geändert) mit Krebsdiagnose. Unstillbare Schmerzen quälten das Kind, die Angst vor seinem Tod quälte die Eltern. Schließlich war es der Arzt, der mit dem Jungen über dessen geringe Lebenschancen sprach. „Danach änderte sich Wesentliches: Die Schmerzen verschwanden, unbeschwertes Erleben war wieder möglich“, sagt Frosch. Die Angst vor dem offenen Wort hatte den Schmerz verursacht.

Herr Frosch, mit welchen Symptomen kommen Kinder und Jugendliche ins Kinderpalliativzentrum?

Die meisten unserer jungen Patienten haben angeborene Krankheiten, neurologische Diagnosen oder Stoffwechselstörungen. Sehr viele sind schwerstmehrfachbehindert und können nicht sprechen. Während es bei der Palliativversorgung Erwachsener darum geht, die Lebensendphase zu verbessern, sind unsere Kinder und Jugendlichen meist nicht in akuter Lebensgefahr. Sie haben eine schwere Grunderkrankung und kommen in akuten Krisen ins Kinderpalliativzentrum: Mit häufigen Krampfanfällen, ständigem Erbrechen, Unruhe, Schmerzen, Problemen bei der Nahrungsaufnahme, dem Verlust von Sehen oder Hören.

Wenn eine Heilung aussichtlos ist, was können Sie dennoch für die Kinder und ihre Familien tun?

Zunächst versuchen wir die Symptome zu erkennen und zu lindern: Was sagen die ärztlichen Fachkollegen? Was haben die Eltern beobachtet? Was äußern die Kinder? Die können sich aber oft gar nicht selbst mitteilen und brauchen einen guten Blick ihres Umfeldes.

Im Kinderpalliativzentrum geht es neben der medizinischen Hilfe immer auch darum zu klären, wie für die Familien das Leben weitergehen kann. Viele Eltern sind zutiefst erschöpft von ihrer „Rund-um-die Uhr-Beanspruchung“. Dem Kind kann es aber nur gut gehen, wenn seine Eltern nicht permanent überfordert sind. Und auch die Geschwisterkinder gehören dazu, brauchen Beachtung und werden bei uns von den Therapeuten mit begleitet. Sie sind aber auch eine enorme Ressource, bringen Gesundes in das Leben des kranken Kindes. Wie trotz der Krankheit ein erfüllendes Leben möglich ist, das kann man in unserem Palliativzentrum lernen.

Was heißt für Sie „Lebensqualität“?

Michael FroschMichael Frosch (66), Kinder- und Jugendarzt, zwölf Jahre Oberarzt am Kinderpalliativzentrum und Kinderschmerzzentrum der Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln – Universität Witten/Herdecke. Zuvor leitete er unter anderem das Sozialpädiatrische Zentrum der Universität Münster und war dort bereits in Kontakt mit Kindern und Jugendlichen, die lebenslimitierend erkrankt waren.

Entspannung nach Zeiten extremer Unruhe. Wenn sich ein Tag-Nacht-Rhythmus neu einstellt. Wenn ein Kind plötzlich wieder die Augen öffnet, lächelt, nonverbal reagiert, weil der Therapiehund spontan aufs Bett springt. Wenn ein Rollstuhl-Spaziergang im Garten möglich ist. Wenn die Eltern innere Sicherheit zurückgewinnen, mal wieder zum Sport gehen oder sich mit alten Freunden treffen können.

Wir fragen die Eltern: Was wollen wir erreichen? Welche Lebenssituation war vor einigen Monaten noch erträglich? Die Eltern sollen erleben: Hier im Zentrum bin ich erstmal sicher und kann zur Ruhe kommen, denn die anderen verstehen mein Kind. Wirklich bewundernswert ist, dass die allermeisten Eltern eines schwerstbehinderten Kindes ihren Lebensentwurf komplett ändern, weil ihnen die Kinder wichtiger sind.

Was tun, wenn ein Jugendlicher seinem Leben ein Ende setzen will?

Dass Eltern das Leid ihres Kindes nicht mehr aushalten können, das kommt nicht so selten vor. Jugendliche mit einem lebensbedrohlichen Tumor dagegen haben eher den Wunsch, noch etwas Bestimmtes zu erleben, Freunde zu treffen oder sich zu verabschieden. Ein Suizidwunsch entsteht eher bei Jugendlichen mit mentalen Erkrankungen, wenn sie keinen Menschen haben, für den sich das Weiterleben lohnen würde. Da reicht dann eine akute Krise für eine Kurzschlusshandlung.

Wichtig erscheint mir in all diesen Situationen: Da zu sein für ein offenes Gespräch, mein Gegenüber ernst zu nehmen. Nicht gute Ratschläge geben zu wollen, sondern den Blick zu öffnen und den Versuch zu wagen, eine Hoffnung, einen Wunsch oder eine neue Perspektive zuzulassen.

Viele Kinder begleiten Sie bis ins junge Erwachsenenalter. Wie geht es für ihre volljährigen Patienten weiter?

Für Volljährige mit neurodegenerativen Erkrankungen gibt es leider keine festen Versorgungskonzepte. Gemeinsam mit den Eltern suchen wir deshalb ambulante Hilfen, neurologische Einrichtungen, Wohngruppen oder auch ein Pflegeheim, wenn die Familie den oft extremen Pflegealltag nicht mehr allein bewältigen kann. Man kann Patienten heute auch zu Hause langzeitbeatmen und viele andere Behandlungen daheim durchführen – es gibt aber viel zu wenig Fachpersonal für die ambulante Palliativpflege.

Warum haben Sie sich eigentlich einen emotional derart belastenden Arbeitsplatz ausgesucht?

Das ist eine extrem sinnstiftende Arbeit, wie es kaum eine andere gibt. Ich habe das nie in Zweifel gezogen. Natürlich habe ich mich morgens immer wieder gefragt: Was kommt heute auf dich zu? Und ich musste aushalten, manche schweren Entscheidungen zu fällen – aber nie allein, immer in einem verlässlichen Team.

Das Kinderpalliativzentrum ist eine katholische Einrichtung. Spielt der Glaube an Gott im Klinikalltag eine Rolle?

Mir persönlich hat mein Glaube und meine innere Haltung die Sicherheit für meine Arbeit gegeben. Darüber hinaus bin ich in unserer Einrichtung vielen Menschen begegnet, für die das Spirituelle eine wichtige Lebenskomponente ist. Das ist nicht immer christlich, muslimisch oder überhaupt religiös motiviert. Es geht um den Sinn des Lebens, die Bedeutung des Menschseins, die eigene Haltung: Was ist mir wertvoll? Wie will ich mein Leben führen? In der Regel ist das für den Einzelnen eine große Ressource.

Das Kinderpalliativzentrum an Vestischen Kinder- und Jugendklinik Datteln wurde im Jahr 2010 eröffnet und war die erste Einrichtung dieser Art in Deutschland. Ein multiprofessionelles Team versorgt hier lebensbedrohlich erkrankte und schwerstmehrfachbehinderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene und berät die Angehörigen. Weil die psychosoziale Versorgung und Teile der medizinisch-pflegerischen Versorgung nicht von den Kassen gedeckt werden, sorgt ein Förderverein für Spenden und ehrenamtliche Einsätze. https://kinderpalliativzentrum.de/

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