Michael Kertelge über Theo Wehren, verstorbener Pfarrer in Bocholt-Barlo

Wie ein verurteilter Missbrauchstäter Priester im Bistum Münster blieb

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Michael Kertelge aus Lüdinghausen hat 18 Monate über den Missbrauchsfall Theo Wehren (1931-2011) geforscht. Wehren hatte zuletzt als Pfarrer in Bocholt-Barlo (Kreis Borken) gewirkt. Wegen Kindesmissbrauchs wurde Wehren 1976 verurteilt. Dennoch verbrachte er danach noch Zeit mit Kindern aus einem Heim in Werne. Wie es sein konnte, dass ein Intensivtäter trotz Verurteilung weiter in der Seelsorge tätig war und warum die Justiz nicht eingeschritten ist, erklärt Kertelge im Gespräch mit „Kirche-und-Leben.de“.

Herr Kertelge, Sie haben sich mit dem „Fall Wehren“ beschäftigt, alle verfügbaren Berichte gesichtet und Gespräche mit Juristen geführt. Was hat Sie an diesem Priester interessiert, der in den 1970er Jahren wegen Missbrauchs an Kindern verurteilt wurde?

Theo Wehren war nach seiner Priesterweihe von 1966 bis 1968 Kaplan in meiner Heimatgemeinde St. Josef in Selm-Beifang. Ich habe ihn als Kind erlebt und mit meinen Eltern auch in seiner nächsten Stelle in Recklinghausen besucht. In Beifang war er ungemein beliebt. Er hatte vorher als Gärtner gearbeitet und sprach die Sprache der Menschen. Und Fußball spielen konnte er auch. So hat er die Anfangszeiten der sonntäglichen Christenlehre verlegt, damit die Fußballfans das Meisterschaftsspiel am Sonntag verfolgen konnten.

Wie beschreiben Sie das Täterprofil?

Die Studie „Macht und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche“ am Beispiel des Bistums Münster ordnet ihn auf der Seite 390 unter die Kategorie 1 ein: der pädophil fixierte Typ. Laut Urteil des Amtsgerichts Bocholt waren die Opfer von Theo Wehren zwischen neun- und 15-jährige Jungen. In Bocholt-Barlo wurden Ministranten mit 14 Jahren verabschiedet und bekamen erst fünf D-Mark, später fünf Euro als Abschiedsgeschenk.

Wie bewerten Sie die Personalverantwortung des Bistums Münster, die mit dem Straftäter befasst war?

Mit einem Wort: katastrophal! Die damaligen Haupt-Verantwortlichen Bischof Heinrich Tenhumberg, Generalvikar Hermann-Josef Spital und der Personalchef Wilhelm Stammkötter haben nichts unternommen, um die Betroffenen zu schützen. Weder haben sie die Ordensschwestern im Kinderheim in Werne ins Bild gesetzt noch die Verantwortlichen in den betroffenen Gemeinden informiert und beteiligt. Ihre Empathie galt einzig und allein dem Priestertäter. Auch dessen Therapie haben sie nicht begleitet, sollte es überhaupt zu einem therapeutischen Prozess gekommen sein. Zu keiner Zeit wurde erwogen, Theo Wehren aus der Seelsorge abzuziehen oder ihm zumindest den Kontakt mit Kindern und Jugendlichen zu beschränken. Auch die Beichtvollmacht wurde ihm nicht entzogen. Und all das im vollen Wissen, dass er ein rechtskräftig verurteilter Intensivtäter war.

Staatsanwälte und Richter hatten sich in diesem konkreten Fall mit einem milden Urteil zufriedengegeben, zumindest aus heutiger Sicht. Was denken Sie über die Juristen von damals?

Das Urteil 1976 kam einzig und allein aufgrund der Aussage von Theo Wehren zustande. Andere Zeugen wurden nicht vernommen. Bekanntlich gibt es in diesem Bereich eine sehr hohe Dunkelziffer. Eine andauernde und fortgesetzte Straftat wurde ihm nicht unterstellt, weil er nach jeder Tat Reue gezeigt habe. Im Urteil des Amtsgerichtes sind Taten über fast zehn Jahre aufgeführt. Strafmildernd schreibt der Richter im Urteil auf Seite vier, dass „seine Handlungen ihre tieferen Ursachen in fehlender Zärtlichkeit im Elternhaus und in einem zölibatär bedingten sexuellen Notstand gehabt haben“. Theo Wehren war zum Zeitpunkt des Urteils 1976 schon 46 Jahre alt. Das Gericht schrieb, eine anlaufende fachärztliche Behandlung könne dazu beitragen „Klarheit über seine Veranlagung zu finden…“. Mit 46 Jahren und einer Tätigkeit in der Seelsorge sollte das bereits hinlänglich geschehen sein. Zudem wurde keine einzige Bewährungsauflage erlassen. Theo Wehren hatte aber seine strafbaren Handlungen jahrelang ausgeübt und hat sie nach dem Urteil vermutlich auch weiterhin fortgesetzt.

Worauf stützen Sie Ihre Hypothese, Wehren hätte nach 1976, also nach dem Gerichtsurteil, weiterhin Kinder missbraucht?

Die Missbrauchsstudie beschreibt Wehren als Intensivtäter. Das Dunkelfeld des Kindesmissbrauchs ist, wie allgemein bekannt, sehr hoch. Nach 1976 sind Wehren noch weitere 15 Jahre Kinder aus dem Kinderheim „zugeführt“ worden. Meine Vermutung stütze ich auch auf Aussagen früherer Mitarbeiter des Kinderheims. All das ist juristisch nicht verwertbar. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Wehren weiteren Missbrauch begangen hat, ist demnach sehr hoch.

Wie sind Kirchenleute und Juristen mit den Betroffenen umgegangen?

Michael Kertelge hat die Geschichte des Missbrauchstäters Theo Wehren (1931-2011) aufgearbeitet. | Foto: privat
Michael Kertelge hat die Geschichte des Missbrauchstäters Theo Wehren (1931-2011) aufgearbeitet. | Foto: privat

Die Justiz war zu diesem Zeitpunkt mit der Thematik der sexualisierten Gewalt und dem Umgang mit Betroffenen nicht gut vorbereitet, so glaube ich. Von kinderfreundlicher Befragung bei Aussagen von Zeugen oder breiterem Hintergrundwissen bei traumatisierten Opfern war die Justiz noch weit entfernt. Bei den kirchlichen „Nicht-Verantwortungsträgern“ gab es auch kein hinreichendes Wissen um die Thematik. Nach Aussage der Historikerkommission (Kapitel Therapeuten, Seiten 408 bis 426) hat das Bistum Münster nur drei ärztliche/therapeutische Fachleute herangezogen. Diese waren keine Experten für dieses Feld und zwei Drittel von ihnen waren direkt bei kirchlichen Trägern angestellt. Betroffene waren für die Kirche nicht wichtig, so bitter das klingen mag. Es galt vor allem, einen Skandal und öffentliches Aufsehen zu vermeiden.

Warum ist die Aufklärungsarbeit im kirchlichen Bereich bis heute wichtig?

Betroffene haben das Recht, dass ihre Geschichte mit Respekt angeschaut wird. Nach meiner Erfahrung geht es ihnen nicht zuerst um juristische Strafverfolgung, obwohl auch die wichtig ist. Sie möchten vor allem, dass ihre Geschichte gesehen und Verantwortung übernommen wird. Auch im Fall von Theo Wehren in jüngster Zeit hat es 2013 und 2019 neue Aussagen von Betroffenen beim Bistum Münster gegeben, die detaillierte Schilderungen ihrer erlittenen Missbrauchstaten zu Protokoll gegeben haben. Nach meinem Wissensstand sind diese Tatbestände der betroffenen Kirchengemeinde, ihren Gremien und den Verantwortlichen nicht weitergegeben worden.* Wie soll eine Kirchengemeinde, die sich wie die in Bocholt sehr um Transparenz und Offenheit bemüht, arbeiten, wenn ihr vor Ort so wichtige Informationen vorenthalten werden? Es sind die Menschen vor Ort in Barlo und anderswo, die Mühe haben, das jahrelange Bild des „netten Pastors“ mit dem Bild des Mehrfachtäters übereinander zu bekommen. Ich habe Respekt vor den Schritten, die die Menschen und die Arbeitsgruppe, die sich dort gebildet hat, unternehmen.

Was hat sie am meisten überrascht und bestürzt?

Zum einen mit welcher Überlegtheit sich der Täter Theo Wehren gerade die am meisten schutzbedürftigen Heimkinder im Kinderheim in Werne ausgesucht hat, denen ohnehin keiner geglaubt hätte, die als abgeschrieben galten. Und noch mehr als ich festgestellt habe, dass das Bistum Münster, welches seit 1976 im Besitz des Urteils war, die Tatsache nicht kommuniziert hat, dass da ein Sexualstraftäter unterwegs war. Noch 15 Jahre lang sind Kinder aus dem Kinderheim in Werne arglos zu „Kapi“ nach Bocholt gebracht worden, einem rechtskräftig verurteilten Sexualstraftäter. Und die Opfer von 1968 bis 1976 waren nicht die Kinder, die 1976 bis in die 1990er Jahre Betroffene wurden.

Kann man ihre Ausführungen irgendwo nachlesen?

Ja, der Aufsatz erscheint in diesen Tagen in den Geschichtsblättern des Kreises Coesfeld 2022, herausgegeben vom Kreisheimatverein Coesfeld. Der Titel lautet „,Und ich dachte, das käm nie raus.' Der Umgang des Bistums Münster mit Betroffenen und dem Täter, Pfarrer Theo Wehren (1931-2011)“. Eine typische Skandalgeschichte eines vorbestraften Sexualstraftäters und beliebten Pastors.

* Peter Frings, Interventionsbeauftragter des Bistums Münster, verwies gegenüber "Kirche-und-Leben.de" auf eine Veranstaltung in der Pfarrei im Sommer 2019. (d. Red.)

Die Quellen
Die Recherchen von Michael Kertelge, der in Lüdinghausen als Pastoralreferent arbeitet und Historiker ist, fußen nach seinen Angaben vor allem auf Gesprächen mit dem Heimleiter des Kinderheims in Werne, mit Schwestern der Göttlichen Vorsehung, die in Werne gearbeitet haben, mit Jugendamt-Mitarbeitern der Stadt Selm, mit Pfarrern der betroffenen Gemeinden in Werne, Selm, Recklinghausen und Bocholt. Auch mit Zeugen aus Bocholt-Barlo habe er gesprochen, sagt Kertelge. Zudem habe er alle verfügbaren Berichte über Theo Wehren und Fachliteratur ausgewertet sowie Archivmaterial durchgesehen.

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