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Vor der Veröffentlichung des Kölner Missbrauchsgutachtens am Donnerstag wächst die Spannung in der katholischen Kirche. Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" veröffentlichte eine umfangreiche Recherche zu einem Missbrauchsfall, in dem unter anderem dem heutigen Hamburger Erzbischof Stefan Heße und dem Kölner Weihbischof Dominikus Schwaderlapp schwere Versäumnisse vorgeworfen werden.
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes Wilhelm Rörig, sagte im WDR, er erwarte vor allem im Interesse der Betroffenen, "dass Vertuschung, Verleugnung von Missbrauch und auch die Verhinderung von Aufklärung maximal aufgedeckt wird". Außerdem müsse Kardinal Rainer Maria Woelki offenlegen, ob er "wirklich gewichtige Gründe hatte, um das erste Gutachten zurückzuhalten". Zu möglichen personellen Konsequenzen könne er sich erst nach Veröffentlichung der Gutachten äußern, ergänzte er.
Bätzing: „Jahrzehntelange Vertuschung“
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, beklagte in einem ZDF-Gottesdienst einen "jahrzehntelangen institutionell vertuschten Missbrauch" in der katholischen Kirche. Dies sei eine "echte Katastrophe" und jetzt sei es höchste Zeit "für Ehrlichkeit und Entschiedenheit im Umgang mit dieser dunklen, bis heute wirksamen Vergangenheit", so der Limburger Bischof.
In der katholischen Wochenzeitung "Die Tagespost" (online) kritisierte der Vatikan-Kinderschutzexperte Hans Zollner alle Versuche, Vertuschung von Missbrauch oder die Versetzung von Tätern in früheren Zeiten zu relativieren: Unabhängig von der jeweiligen rechtlichen oder gesellschaftlichen Situation hätten Missbrauchstäter - schon allein aufgrund der klassischen Moraltheologie - immer schon hart bestraft werden müssen.
Zollner: „Immer und überall ein Verbrechen“
Wörtlich ergänzte der Jesuit und Leiter des vatikanischen Kinderschutzzentrums: "Wer Kinder, Jugendliche und andere Schutzbefohlene sexuell oder anderweitig missbraucht, hat zu allen Zeiten und an allen Orten ein schweres Verbrechen verübt." Das hätte jedem klar gewesen sein müssen - "und entsprechende Strafen und Maßnahmen wären unumgänglich gewesen".
Bei einer Versammlung des Diözesanrats der Katholiken im Erzbistum Berlin forderte Johanna Beck vom Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz, dass "schonungslos benannt wird, wer Täter und Vertuscher waren". Wer wolle, dass den Opfern Gerechtigkeit widerfahre, müsse klar zeigen, dass Verantwortliche zur Verantwortung gezogen werden.
Musste Woelki den Missbrauchsfall melden?
In einem Beitrag für den "General-Anzeiger" kritisierte der Bonner Kirchenrechtler Norbert Lüdecke die Ansicht des Vatikans, nach der der Kölner Erzbischof Woelki den Missbrauchsfall rund um den mit ihm befreundeten Priester O. nicht nach Rom melden musste. Mit einem solchen Rechtsverständnis wäre "die angeblich so konsequente Missbrauchsbekämpfung durch Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus als Mythos und Fake entlarvt".
Woelki hatte die Nicht-Meldung mit der damals schon weit fortgeschrittenen Demenz des Geistlichen begründet. Wenn der Vatikan dies akzeptiere, so Lüdecke, verstoße er gegen seine eigenen Normen. Damit werde "das Prinzip Kirchenschutz vor Kinderschutz hinterhältig weitergeführt".
Kirche mit Vorreiterrolle
Bei aller berechtigter Kritik an der "Kölner Tragödie" bescheinigte der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung der katholischen Kirche insgesamt eine Vorreiterrolle bei der Aufarbeitung von Missbrauch in Deutschland. "Im Hinblick auf eine strukturierte unabhängige Aufarbeitung ist es tatsächlich so, dass die katholische Kirche in einer Vorreiterrolle ist", sagte Rörig wörtlich im WDR.
Mit der evangelischen Kirche zum Beispiel verhandle er derzeit noch über eine entsprechende Vereinbarung, wie er sie mit der katholischen Kirche 2020 abgeschlossen habe, ergänzte Rörig. Zugleich gebe es in Politik und Gesellschaft noch großen Nachholbedarf, die Aufarbeitung voranzutreiben in den Bereichen Sport, Schulen und Familie.
Veröffentlichung lange erwartet
Nach monatelangem Streit präsentieren Juristen am Donnerstag ein Missbrauchsgutachten für das Erzbistum Köln. Das Team um Strafrechtler Björn Gercke hat den Umgang der Bistumsspitze mit Fällen sexualisierter Gewalt untersucht und soll Vertuscher beim Namen nennen. Die Untersuchung der zuerst beauftragten Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) sollen Betroffene, Journalisten und Interessierte wenige Tag später einsehen können. Wegen "methodischer Mängel" wird es bisher zurückgehalten.