Patrick Onnebrink arbeitet im St.-Marien-Hospital in Lüdinghausen

200 Kilo weniger und viel Unterstützung der Kollegen

Sein Gewicht um 200 Kilo zu reduzieren, war eine unvorstellbare Herausforderung für Patrick Onnebrink. Die bleibt es weiter, auch seelisch. Die Kollegen im St.-Marien-Hospital in Lüdinghausen unterstützen ihn.

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Sein Weg hat so gar nichts mit dem zu tun, was beliebte TV-Serien wie etwa „The biggest Looser“ vermitteln. Kein Personal-Coach, kein Ernährungsberater, kein Sport-Animateur, keine Siegerpose auf der Waage. Und trotzdem konnte Patrick Onnebrink sein Gewicht von 300 Kilo auf 100 Kilo reduzieren. Heute, viele Jahre nachdem er diesen Weg antrat, weiß er, dass es längst nicht nur um die Pfunde geht, die purzeln müssen. „Es ist der Kopf, der entscheidet“, sagt der 45-Jährige. „Und der muss sich immer noch jeden Tag damit auseinandersetzen.“

Es musste „Klick“ machen, sagt Onnebrink. Das tat es aber lange Zeit nicht bei ihm. Denn jeder vorangegangene Versuch, sich von seiner belastenden Situation zu lösen, war fehlgeschlagen. Diäten, Kuren, Klinikaufenthalte hatten langfristig nicht funktioniert. Wenngleich der Druck groß war, schon von Jugendzeiten an. „Schwimmen gehen, der Kontakt mit Mädchen, Fußball spielen.“ Er nennt nur wenige Beispiele, wenn ihm bewusst wurde, dass er als dicker Junge eine Außenseiterrolle einnahm.

 

Strategien gegen die Scham

 

Irgendwann hatte er sich damit eingerichtet. Trotz aller Aufforderungen von Familie und Freunden. „Ich hatte kapituliert.“ Sein Leben passte er nach und nach an seine Körperfülle an. Was sein Gewicht weiter in die Höhe trieb. Am Ende saß er fast den ganzen Tag vor dem Computer und dem Fernseher, ernährte sich von Fast-Food, trank Cola und aß Chips. Gegen die Scham entwickelte er Strategien. „Ich zog mich immer weiter zurück“, erinnert sich der Lüdinghausener. „In den Supermarkt ging ich nur noch spät, um niemandem zu begegnen.“

Dr. Irina Herren
Dr. Irina Herren leitet die Abteilung für Plastische Chirurgie im St.-Marien-Hospital in Lüdinghausen. | Foto: Michael Bönte

Das Klicken in seinem Kopf übernahm ein einschneidendes Erlebnis. Nach einem Herz-Stillstand landete auf der Intensivstation, lag im Koma, wurde künstlich ernährt. Als er nach einigen Wochen wieder aufwachte, hatte er mehr als 40 Kilo abgenommen. Sein Arzt aber sagte ihm, dass das noch viel mehr werden müsse. Sein Übergewicht war lebensbedrohlich geworden.

 

Operation war Startpunkt

 

Eine Magenverkleinerung war die entscheidende Operation. Sie brachte ihm das schnelle Völlegefühl, das ihm über die Jahre abhanden gekommen war. „Der Eingriff war aber nur der Startpunkt für viele weitere Male, in denen es Klick machen musste.“ Genau dabei half ihm ein neues Umfeld, in das er per Zufall kam. Das St.-Marien-Hospital in Lüdinghausen suchte einen Mitarbeiter für den Hol- und Bringdienst. Es war aber nicht allein die Bewegung, die mit dem Job verbunden war. Es waren vor allem viele Kollegen in dem kleinen Krankenhaus, die ihm gut taten. „Ich hatte das Gefühl, das alle acht auf mich gaben.“

Damit lag er nicht ganz falsch. Denn seine Situation war einigen bekannt. Viel wichtiger aber war die grundsätzliche Aufmerksamkeit, die in dem Krankenhaus herrscht. Es stehe nicht nur in dessen Leitbild, dass man sich auch für die „ganzheitliche Fürsorge“ der Mitarbeiter verantwortlich fühlt, sagt Monika Kleingräber-Niermann. Die Referentin der Geschäftsleitung weiß, dass der Blick auf die Patienten, Angehörigen und Kollegen über die medizinische und pflegerische Notwendigkeit hinausgeht. „Wir versuchen immer, den ganzen Menschen zu sehen.“ Auch Patrick Onnebrink.

 

Er versteckte sich nicht mehr

 

Sie selbst wusste anfangs nichts von seinem Hintergrund und sprach ihn einmal an. „Er sollte doch mal schauen, ob es passendere Hosen für seine Kleidergröße gab – oder Hosenträger.“ Seine Antwort kennt sie noch heute. „Hören Sie mal, ich erzähle Ihnen jetzt mal meine Geschichte.“ Die Reaktion zeigte ein wichtiges Element für den neuen Umgang von Onnebrink mit seiner Situation. Er war offener geworden, versteckte sich mit seinen Erlebnissen nicht mehr.

Eine Offenheit, die ihm vor allem auch in Momenten der Niedergeschlagenheit helfen sollte. Denn dass seine Waage immer weniger anzeigte, war nur ein Teil seiner Entwicklung. Seine Seele kam da manchmal nicht hinterher. „Das Gefühl, unglaublich dick zu sein und deshalb nicht viel leisten zu können, saß so tief, dass es zu meiner äußerlichen Hülle nicht passte.“ Zu lange hatten Scham und Rückzug zu seinem Profil gehört. Er konnte sie nicht so einfach ablegen wie sein Gewicht.

 

Nachvollziehbare Not

 

Hinzu kam, dass seine Haut durch das jahrzehntelange Übergewicht viel zu groß für seinen neuen Köperumfang war. Auch das machte ihm zu schaffen, was einer Kollegin nicht verborgen blieb. Dr. Irina Herren, die die Plastische Chirurgie des Krankenhauses leitet, sprach ihn an. Sie sagt, sie habe das aus einer „besonderen Obacht“ getan, die sie einem Kollegen gegenüber empfinde. „Seine Körperhülle war ihm zehnfach zu groß geworden – ich konnte seine Not nachvollziehen.“

Foto auf dem Handy von Patrick Onnebrink
Das einzige Foto aus vergangenen Zeiten hat Patrick Onnebrink auf seinem Handy. Foto: Michael Bönte

Es folgten fünf Operationen, in denen Onnebrinks Haut nach und nach an seine neue Figur angepasst wurde. "Das war eine Ehre für mich – er ist ja Patient und Kollege“, sagt Herren. Sie weiß sehr gut, mit welchen Gefühlen Menschen in seiner Situation zu kämpfen haben. In der Nachsorge gibt es wenige Angebote, das Wissen um die notwendige Begleitung ist bei vielen Ärzten kaum vorhanden. Sie macht sich stark dafür, das zu ändern, hält Kontakt zu den nachbehandelnden Hausärzten und gibt Vorträge, etwa bei Selbsthilfegruppen.

 

15 Kilometer am Tag

 

Onnebrink hat diese Aufmerksamkeit gut getan. Nicht nur ihre, auch die vieler Kollegen. Denn die wussten schnell, wann er wieder auf dem OP-Tisch lag. Nicht, weil das herumerzählt wurde, sondern weil er dann ein großes Loch im Team des Krankenhauses hinterließ. „Der Logistik fehlte eine treibende Kraft“, sagt Monika Kleingräber-Niermann. „Jeder fragte sofort, wo er war.“ Kein Wunder, läuft er doch am Tag mehr als 15 Kilometer, um die Stationen mit Wäsche, Getränke und Essen zu versorgen. Die Strecke zeigt ihm am Abend sein Smartphone an. Für seine wichtige Fitness nach der Gewichtsreduktion ist das natürlich Gold wert.

Er ist ein „Uhu“ geworden. So werden die Patienten scherzhaft genannt, die es geschafft haben, unter hundert Kilogramm zu wiegen. „Knapp, aber eindeutig“, sagt Onnebrink. Von seiner Zeit davor hat er nur noch ein Foto. Es erinnert ihn an ein Leben, das ihm täglich zusetzte, ihn in Einsamkeit und Selbstzweifel trieb. Das alles kann er nicht hinter sich lassen, es gehört zu seinem Lebensweg, auch wenn er sich äußerlich davon getrennt hat. „Innerlich wird es immer eine Auseinandersetzung bleiben.“ Der Team-Geist im St.-Marien-Hospital in Lüdinghausen wird ihm dabei helfen.

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