Zum Brauchtum des „Toten-Verläutens“ in den Baumbergen

Totenglocke gegen Reichsthaler - wie eine Äbtissin Kasse machte

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Der Heimatforscher Hans-Peter Boer aus Nottuln hat sich mit der Tradition des Toten-Verläutens seines Heimatorts befasst. Dabei ist er in seinen Forschungen auf eine rigide Äbtissin und auf traditionsbewusste Steinhauerfamilien aus den Baumbergen gestoßen.

Margaretha Theodora von Velen wusste, was sie wollte. Sie war von 1728 bis 1750 Äbtissin des Stiftes Nottuln. 1731 erstritt sie das Richteramt in den geistlichen Angelegenheiten aus den Händen des Dechanten für die Äbtissin zurück. Aber nicht nur das: 1736 erließ sie für Nottuln, Appelhülsen und Schapdetten eine Ordnung für das Totenverläuten, die für Aufruhr sorgte: Waren bisher alle Toten „ohn Unterschiedt“ verläutet worden, so wurde nun eine strenge Regelung erlassen.

Den Schulten (den Bewirtschaftern eines Hofs) und ihren Familienangehörigen wurde im Todesfall eine halbe Stunde Nachläuten zugestanden, den Erbpächtern eine halbe Viertelstunde weniger, also 22,5 Minuten. Verstorbene aus Kötterhäusern wurden eine Viertelstunde verläutet, während den Knechten und Mägden eine halbe Viertelstunde, sprich 7,5 Minuten, zugestanden wurde.

Verläuten nach Standeszugehörigkeit

Selbst die bislang geübten Läutebräuche der angesehenen Nottulner Antoni-Bruderschaft wurden eingeschränkt: Sie durfte ihre Mitglieder nur nach Standeszugehörigkeit verläuten. Wollte jemand länger nachläuten lassen, so kostete die halbe Stunde einen halben Reichsthaler, die ganze Stunde einen Reichsthaler. Zuwiderhandlungen sollten bestraft werden.

„Ob sich die Bestimmungen der rigiden Äbtissin durchgesetzt haben, ist nicht bekannt“, sagt Hans-Peter Boer. Der Vorsitzende des Kreisheimatvereins Coesfeld hat sich intensiv mit der Tradition des Totenverläutens im Münsterland beschäftigt und dabei die Sprache der Glocken als sozialer Gradmesser untersucht.

Geläute gehörte zum Lebensalltag

„Die Menschen früherer Zeiten wurden durch einen tradierten Rahmen von Bräuchen und Verhaltensweisen gestützt, die uns – auch im Münsterland – inzwischen weitgehend verloren gegangen sind“, meint der Heimatforscher. Die Kirchenglocken spielten dabei immer eine große Rolle.

Das Geläute der Glocken gehörte über Jahrhunderte zum Lebensalltag des Münsterlandes. Die großen Instrumente in den Kirchtürmen begleiteten in den Dörfern und Städten den Lebensweg der Menschen von der Wiege bis zur Bahre. „Den Glocken sprach man eine teils magische Wirkung zu. Sie vermittelten erbauliche wie heimatliche Gefühle“, sagt Boer.

Brauchtum der Steinhauerfamilien

Die Verordnung der rigiden Äbtissin zum Totenverläuten sorgte für ordentlich Gesprächsstoff. Der Nottulner Kaplan und Geschichtsschreiber Wilkens kennzeichnete den Erlass von 1736 um 1820 als „neumodig“ und geprägt von einer Herrschsucht, „die man bei keinem Bischof so findet“.

Eine Gruppe in der Pfarrei in Nottuln, aber auch im benachbarten Havixbeck, widersetzte sich hartnäckig solchen oder ähnlichen Regelungen und blieb damit erfolgreich bis in die 1960er Jahre, wie Boer herausfand. Die Steinhauerfamilien vom Baumberg, wie die Hügellandschaft zwischen Nottuln, Havixbeck und Billerbeck genannt wird, nahmen für sich ein besonderes Recht des Nachläutens ihrer Verstorbenen in Anspruch, welches sie selbst ausführten und das offensichtlich schon von ihren Zeitgenossen am Anfang des 19. Jahrhunderts als Ärgernis empfunden wurde.

Pochen auf Standesprivilegien

Innerhalb des Totenbrauchtums spielte seit dem Mittelalter das Totengeläute eine wichtige Rolle, weil es als Demonstration des Standesgefüges benutzt werden konnte. „Der Verstorbene und die Trauer um ihn spielen seit dem 17. Jahrhundert gerade bei diesem Teil des Totenbrauchtums kaum noch eine Rolle. Vielmehr scheint es, als ob nur dem Stand und sozialen Rang Ausdruck verliehen werden soll“, sagt Boer.

Das Totengeläute gerade im ländlichen Raum war durch Standesprivilegien geprägt. Die soziale Rolle des einzelnen Bauern in seiner Stellung im Dorf und Nachbarschaftsverband sowie die Größe und Tradition des Hofes wurden in den Läutebräuchen der Kirchdörfer berücksichtigt.

Pfarrer mussten Berichte verfassen

Ähnlich wie in der Stadt wurden soziale und rechtliche Stellung zum Ausdruck gebracht, stets verbunden mit dem Bemühen, sich gegenüber anderen, weniger bemittelten Menschen abzusetzen und abzusondern. Die aufmerksame Obrigkeit war allerdings seit dem 18. Jahrhundert bemüht, Ordnungen zu setzen.

In den 1820er Jahren bemühte sich die Preußischen Regierung, in die vielfältigen lokalen Gewohnheiten des öffentlichen Lebens auch des Münsterlandes Ordnung zu bringen. 1823 startete die Regierung in Münster eine Umfrage „über die bey Todesfällen und Leichenbeerdigungen festgestellten Mißbräuche“. Die Pfarrer aller Gemeinden wurden zum Bericht verpflichtet.

Staatliche Obrigkeit rief zur Ordnung auf

Der Havixbecker Pfarrer Diem notierte dazu umgehend: „Weith bedenklicher aber ist das Begräbniß Geläuthe, welches die Bewohner des hiesigen Baumberges nach geendigten Exequien (kirchlichen Begräbnisfeiern) als Recht anmaßen und ausüben, zu läuten so lange, als es ihnen gefällt. Äußerst notwendig ist ein Verbot hierüber.“

Und sein Amtsbruder Dechant Vehoff in Nottuln berichtete 1828: „Unregelmäßigkeiten beim Läuten sind hier nicht, nur daß die Steinhauer auf dem Baumberge in der Bauerschaft Uphoven wan sie einen Toten haben, das Läuten nach dem Begräbnisse zuweilen bis Nachmittag fortsetzen, und bei Erinnerung und Untersagen darüber dem Pfarrer schon einmal ihr lächerliches Privilegium, was sie haben wollen, dass sie so lange läuten dorften wie sie wollen, entgegengesetzet, weswegen über diesen Mißbrauch ein förmliches Untersagen der höheren Obrigkeit gut sein würde.“

Verordnungen werden umgangen

Für die Baumberger Steinhauer war das lange, oft stundenlange Verläuten ihrer Toten eine Möglichkeit, über die ihnen von Rang und Stand eigentlich gesetzten Grenzen hinaus Selbstbewusstsein zu demonstrieren, sagt Boer: „Dies taten sie dann auch. Energisch setzten sie sich zur Wehr, wenn man ihnen dieses Recht streitig zu machen suchte.“ Tatsächlich mündeten die Befragungen der Regierung von 1823 und 1828 in einer Bischöflichen Läute-Ordnung vom 18. November 1828, die für die Zukunft alles Geläute ausschließlich beamteten Läute-Küstern übertragen sehen wollte.

Der damalige Dechant Christian Pollack notierte lakonisch: „Das in früheren Jahren ungebührliche Läuten der Steinhauer auf dem Baumberge besteht nicht mehr fort.“ Aber diese Aussage des Dechanten von 1849 wurde in Nottuln durch die Fakten immer wieder umgestoßen, hat Boer herausgefunden: „Tatsächlich haben nicht Verordnungen des Bischofs, der Regierung oder der Dechanten, sondern der Fortschritt der elektrischen Läute-Technik den Brauch des Nachläutens der Baumberger Familien abgeschafft. Und zwar erst im Jahr 1970.

Tradition der Glöcknerfamilie Stegemann

Durch glückliche Zufälle kann der Brauchtumsbereich in der Pfarrei St. Martinus in Nottuln gut erforscht werden. „Zwar wurde auch dort das Handläuten durch elektrische Läute-Anlagen ersetzt, aber dies geschah erst recht spät im Jahr 1970“, sagt der Heimatforscher Boer.

Die Glöcknerfamilie Stegemann, die dieses Amt seit mindestens 1731 in ununterbrochener Reihenfolge bis 1970 verwaltet hatte, pflegte nicht nur ein gut sortiertes Familienarchiv. Man kannte, als Boer das Glockenbrauchtum untersuchte, noch alle wesentlichen Gewohnheiten. Das Pfarrarchiv Nottuln und die Bestände des Stiftsarchives ergänzten die Befunde.

Gründung der Gruppe „De Klocklüders“

In Nottuln werden erstmals 1405 in einem Testament die „Klocklüders“ genannt, die Läuteküster. „In vergangener Zeit war das Läuten derart alltäglich, dass man mehrere Männer für diesen Dienst unter einem hauptamtlichen Glöckner anstellte“, berichtet Boer. Der Glöckner in Nottuln wurde bis 1811 von der Äbtissin ernannt, danach vom Dechanten in Absprache mit dem Bischof.

1990 wurde das heutige Läute-Brauchturm durch die „De Klocklüders“ – Vereinigung der Glöckner an der Stifts- und Pfarrkirche St. Martinus wiederbelebt. Seitdem wird in St. Martinus unter der Regie der „Klocklüders“ wieder an Feiertagen und besonderen Anlässen mit der Hand geläutet. „Der Klang und die Läuteweise sind unverkennbar“, sagt Karl Hauk-Zumbülte von der ehrenamtlichen Vereinigung.

Besichtigung des Kirchturms

Das Totengeläut in Nottuln erklingt heute während des Trauerzugs von der Friedhofshalle bis zum Grab – übrigens für jeden, der es möchte, und natürlich unabhängig von Rang und Namen. Wer einmal den historischen Kirchturm erklimmen möchte, kann sich gern an die „De Klocklüders“ der Pfarrei St. Martinus wenden. „Wir erklären gern unsere Glocken, unseren Glöcknerdienst und das heutige Geläute“, sagt Team-Mitglied Norbert Niemann.

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