Vortrag anlässlich des 70. Geburtstags des Franz-Hitze-Hauses Münster

Altbundespräsident Gauck fordert mehr Toleranz in der Gesellschaft

  • Altbundespräsident Joachim Gauck hielt in Münster ein Plädoyer für mehr Toleranz in der freiheitlichen Gesellschaft.
  • Gauck war anlässlich des 70. Geburtstags in der Akademie Franz-Hitze-Haus zu Gast.
  • Direktor Antonius Kerkhoff betonte, dass Bildungseinrichtungen einen finanziellen Spielraum auch in Zukunft bräuchten.

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Ein Plädoyer für eine streitbare Toleranz hat der frühere Bundespräsident Joachim Gauck der katholischen Akademie Franz Hitze Haus in Münster zum 70. Geburtstag geschenkt. Der evangelische Theologe, der von 2012 bis 2017 Bundespräsident war, hielt bei der Feier am 24. September vor etwa 200 geladenen Gästen einen Festvortrag zum Thema „Die offene Gesellschaft und die Grenzen der Toleranz“, wie die Bischöfliche Pressestelle berichtet.

Neben Akademiedirektor Antonius Kerkhoff und den Mitarbeitenden der Bistumseinrichtung nahmen auch Münsters Bischof Felix Genn, der frühere langjährige Akademiedirektor Thomas Sternberg sowie zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Gesellschaft und Kirche teil.

Gauck: Das Böse existiert

Angesichts des fortwährenden Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine ging Gauck zu Beginn tiefer auf die Bedeutung der Intoleranz ein: „Das Böse existiert. Und es ist kein Zeichen von Toleranz, so zu tun, als wäre das Böse nicht richtig zu erkennen.“ Die Frage, ob es richtig ist, dass Deutschland Waffen in die Ukraine liefert, um einer Kriegspartei beizustehen, werde vielerorts diskutiert. „Als Christen, als Demokraten, als Menschen, die die Freiheit und das Recht lieben, dürfen wir das“, gab er seine persönliche Antwort darauf.

Auch wenn Politikerinnen und Politiker verantwortungsbewusst handelten und eine Zurückhaltung in Teilen zu verstehen sei, müsse doch der Beistand mit den Opfern an erster Stelle stehen. „Ein Wegdrücken und Weghören, wenn Opfer nach Hilfe schreien – nicht nur nach Personen, sondern auch nach Hilfsmitteln – kann ich nicht nachvollziehen“, bezog Gauck klar Stellung. Ein ähnliches Verständnis für den Aggressor wie für die Opfer zu zeigen, habe mit Toleranz nichts zu tun. „Das ist Gleichgültigkeit, das ist Zynismus“, betonte er.

Freiheitliche Gesellschaft braucht Toleranz

Joachim Gauck im Franz-Hitze-Haus Münster
Für Altbundespräsident Joachim Gauck ist klar, dass Toleranz auch eine Art Zumutung für die Gesellschaft sei. | Foto: Ann-Christin Ladermann (pbm)

In seinem 2019 erschienenen Buch „Toleranz: einfach schwer“, aus dem der Altbundespräsident Auszüge vorlas, habe er sich mit der Frage auseinandergesetzt, warum Menschen der offenen Gesellschaft mit ihren Debatten, Dialogen und Kompromissen so wenig Kraft zutrauen, dass sie sich nach einer autoritären Führung sehnen. „Es gibt Menschen, die sich vor dem Wandel fürchten. Das ist erst einmal kein intrinsisches Übel“, so Gauck und mahnte gleichzeitig, Menschen vorzuverurteilen: Nicht jeder, der konservativ denke, sei eine Gefahr für die Demokratie.

„Toleranz fordert, die Andersartigkeit eines Anderen auszuhalten, obwohl mich seine Meinung, sein Verhalten, sein Lebensstil unter Umständen stören“, erklärte der Buchautor und fasste zusammen: „Toleranz ist insofern auch eine Zumutung.“ Weil eine freiheitliche Gesellschaft ein großes Maß an Toleranz brauche, sei es wichtig zu begreifen, dass Toleranz zwar immer mit Mühe verbunden sei, aber auch einen großen Schatz für das Zusammenleben darstelle.

Parallelen zwischen Krisen in Kirche und Gesellschaft

Bischof Genn bezeichnete die Leitfrage in Gaucks Vortrag nach der Toleranz in der Gesellschaft als „die zentrale Frage des Menschen“. „Die Krise in unserer Kirche hat viele Parallelen zu den großen Fragen unserer Gesellschaft“, erklärte er und nannte Beispiele wie die Frage nach der Öffnung, dem Umgang mit Ängsten und dem Markenkern.

Mit der Einladung zum Dialog und der Gastfreundschaft bleibe die Akademie Franz Hitze Haus immer nah an den zentralen Fragen. „Das Angebot, das wir in diesem Haus machen, richtet sich an alle, die über die großen Fragen in den Dialog treten möchten“, skizzierte er das Leitbild der Akademie. Seit 70 Jahren sei das Franz-Hitze-Haus auf diese Weise ein Raum der Begegnung und Bildung, der Auseinandersetzung und des Dialogs. Sein Dank galt besonders den Mitarbeitenden der Einrichtung, die das Haus über die Jahrzehnte hinweg bis heute mit Leben füllen.

Franz-Hitze-Haus braucht finanziellen Spielraum

Akademiedirektor Antonius Kerkhoff schloss sich dem Dank an – und verband diesen mit einem Ausblick in die Zukunft angesichts knapper werdender Mittel. Mit „kultureller Diakonie“ umriss er die Form von Bildung, die in der katholischen Akademie angeboten werde, und die sich am Gemeinwohl, nicht am Gewinn orientiere.

„Um ein unabhängiges, profiliertes Programm gestalten zu können, bedarf es eines finanziellen Spielraums“, erklärte er mit Blick auf den im Bistum laufenden Spar- und Strategieprozess. Die Eigenständigkeit der Einrichtungen größtmöglich fördern, das sei ein aus seiner Sicht ein wichtiges Prinzip in der katholischen Soziallehre: „Nur mit dieser Freiheit und diesem grundsätzlichen Vertrauen können Einrichtungen ihr Profil weiterentwickeln.“

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