Seniorin aus Recke trägt im Gottesdienst regelmäßig die Lesung vor

Anneliese Hecker: 100 Jahre und die wohl „älteste Lektorin aller Zeiten“

Anneliese Hecker: 100 Jahre und die wohl „älteste Lektorin aller Zeiten“ | Video: Marie-Theres Himstedt

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Es ist ja schon eine Leistung, wenn es jemand schafft, 100 Jahre alt zu werden. Anneliese Hecker setzt noch eins obendrauf. Die Seniorin, die im Haus St. Benedikt in Recke (Kreis Steinfurt) lebt, trägt regelmäßig den Lesungstext im Gottesdienst in der Kapelle des Pflegezentrums vor. Höhen und Tiefen haben ihr langes Leben geprägt. Für ihr jahrzehntelanges Engagement in der katholischen Kirche wurde sie auch mit dem Papst-Orden ausgezeichnet.

„Möchten sie zu mir?“ Anneliese Hecker entgeht nicht, wer das Haus St. Benedikt in Recke betritt und verlässt. Das Seniorenzentrum im nordwestlichen Zipfel des Tecklenburger Landes ist seit fünf Jahren ihr Zuhause, ihr Sohn Norbert wohnt mit seiner Familie gleich um die Ecke.

Sie sitzt gerne draußen in ihrem Rollstuhl rechts der Eingangstür, beobachtet das Treiben oder lässt sich in ein Gespräch verwickeln. „Langweilig ist mir nicht“, sagt sie entschieden, und das will was heißen bei einer Person, die in ihrem Leben viel erlebt und gesehen hat. Anneliese Hecker ist im April 100 Jahre alt geworden. Immer noch rege, immer noch fidel, bis auf die Knie, die wollen nicht mehr so richtig.

Pfarrer entdeckte sie im Urlaub auf Spiekeroog

Als „älteste Lektorin aller Zeiten“ tut sie auch heute noch ihren Dienst in der Kapelle des Altenpflegezentrums. „Stefan Jürgens, der Berühmte, der hat mich damals auf Spiekeroog entdeckt“, erzählt Anneliese Hecker. Im Urlaub fehlte dem heutigen leitenden Pfarrer von Ahaus im Gottesdienst in der kleinen Inselkirche St. Peter ein Lektor, und sie meldete sich. Auch wenn sie schon viele kirchliche und andere ehrenamtliche Dienste geleistet hat, wofür sie 1991 den Orden „Pro Ecclesia et Pontifice“, für Kirche und Papst erhielt, das Lektorenamt gehörte bisher nicht dazu: „Da war ich auch schon über 80“, sagt sie mit einem Augenzwinkern.

Eine Lieblingsbibelstelle habe sie nicht unbedingt, wohl aber geht ihr der Spruch nahe, der auf dem Grabstein ihres Vaters steht: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil – wen soll ich fürchten?“ Ihren eigenen Grabstein hat sie auch schon entworfen, wie sie mit einem Lächeln sagt. Überhaupt ist sie sehr kreativ unterwegs: Sie betet in ihrer Wohngemeinschaft ein täglich wechselndes Tischgebet vor, für Pfarrer Konrad Köster, den Hausgeistlichen von St. Benedikt, dichtete sie noch ein längeres Stück zum Geburtstag.

Als Zeitzeugin gefragter Gast

Während der Corona-Pandemie war vor allem der Balkon für die 100-jährige Seniorin ein beliebter Platz. | Foto: Marie-Theres Himstedt
Während der Corona-Pandemie war vor allem der Balkon für die 100-jährige Seniorin ein beliebter Platz. | Foto: Marie-Theres Himstedt

Ein Jahrhundert der Superlative hat sie miterlebt, 1933, mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten kam sie gerade in die sechste Klasse: „Was viele vergessen, ist, dass dieses Leid, dieser Krieg, eine Vorgeschichte, eine Entwicklung, hatte. Natürlich war der Krieg schrecklich, aber viele haben eben die Jahre vorher auch ‚Heil‘ geschrien“, sagt sie rückblickend. Mehr als 200 Mal war sie als Zeitzeugin eingeladen worden zu sprechen, und sie wird dessen nicht müde. Unvergessen die Schikane einer Gestapo-Mannschaft, die den katholischen Jugendzirkel um Pastor Augustinus Winkelmann in Marienthal bei Wesel hochgehen lassen wollte. „Das hat unsere Jugendgruppe nur noch enger zusammengeschweißt“, sagt Anneliese Hecker, die gebürtig aus Essen stammt, und regelmäßig zu diesen Gebetstreffen aus Hamminkeln nach Wesel radelte.

Nach Bombenangriffen lag sie oben auf dem Kirchdach St. Ludger in Essen-Rüttenscheid und reichte Schindeln zur Reparatur des Daches weiter. „Wochen später war wieder alles zerstört.“ Aufstehen, anpacken, neu anfangen, ein Auf und Ab, das ihr Leben prägte. So litt sie lange unter der Erfahrung, keine Kinder bekommen zu können, bis Sohn Norbert das Licht der Welt erblickte. Ihr Glaube und ihr Familienleben waren ihr immer eine Stütze: „Ein harmonisches Zusammensein war mir wichtig, wir konnten immer über alles sprechen“, sagt sie heute. Zahlreiche Fotografien an den Wänden in ihrem Zimmer zeugen von der Anteilnahme ihrer Verwandtschaft: „Hier habe ich noch meine theologische Abteilung“, sagt sie lachend und deutet auf ein gut gefülltes Bücherregal.

Betroffene müssen gehört werden

Die Ergebnisse der Missbrauchsstudie im Bistum Münster verfolgt sie in Gesprächen und der Zeitung. Als langjährige Jugendschöffin hatte sie es in den 1970er Jahren einige Male mit Missbrauchstätern aus unterschiedlichen Kreisen zu tun und dafür gesorgt, dass diese hinter Gittern kamen. „Die Betroffenen müssen gehört werden“, sagt sie entschieden, das sei heute ein Gewinn, dass dies geschehe: „Das Leid, was diese Menschen erlitten haben, muss zur Sprache gebracht werden.“

Und die Diskussion um die Fortentwicklungen der Kirche? „Es gab doch immer schon verheiratete Priester“, weiß sie aus Begegnungen mit Geistlichen der unierten orthodoxen Kirche und in ihren Worten liegt eine Ruhe und Kraft und eine Überzeugung, „dass die Kirche schon irgendwie weiterbestehen werde.“ Für sie gehört die Meditation im Gebet und Lektüre, beispielsweise der Pfarrbriefe ihrer alten Gemeinde aus Essen, auf jeden Fall täglich dazu.

Drei Enkel und sechs Urenkel

Das Ruhrgebiet sollte lange ihre Heimat bleiben, ehe sie nach ihrem Abschied als Lehrerin für katholische Religion an einem Gymnasium in Oberhausen im Ruhestand mit ihrem Mann nach Hörstel zog, woher ihre Mutter stammte.

Drei Enkel und sechs Urenkel bereichern das Leben der wohl „ältesten Lektorin aller Zeiten“, auch liebe Nachbarn aus alten Zeiten schauen regelmäßig vorbei.

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