Anzeige
Sogar die Listen von Wettbüros führte er an, bevor das Konklave 2005 begann: Kardinal Joseph Ratzinger würde der Nachfolger Johannes Pauls II. werden, hieß es. Doch würde sich der Favorit durchsetzen? Eine Erinnerung nach zehn Jahren.
Sogar die Listen von Wettbüros führte er an, noch bevor das Konklave 2005 begann: Kardinal Joseph Ratzinger würde der Nachfolger Johannes Pauls II. werden, hieß es. Nach fast 27 Jahren hatte der polnische Papst ein gewaltiges Erbe hinterlassen, eine Ära geprägt – der deutsche Kurienkardinal mit weltweitem Ansehen als Theologe genoss wie kaum ein anderer internationale Bekanntheit. Bedeutete das schon gute Chancen?
Vielen kamen diese Spekulationen zu glatt vor: Ob sich eine Papstwahl mit einer erstbesten Lösung zufriedengeben kann? Manche machten kein Hehl daraus, dass sie eine Ratzinger-Wahl nicht unbedingt für erstrebenswert hielten, andere sahen darin die Erfüllung ihrer Hoffnung auf einen strikt konservativen Kirchenkurs.
Über all dem aber galt doch die uralte Redensart: „Wer als Papst ins Konklave geht, kommt als Kardinal wieder heraus.“ Und diese Tradition sollte ausgerechnet bei Joseph Ratzinger nicht mehr gelten?
Ratzinger im Mittelpunkt
Schon Tage vor Beginn des Konklaves am 18. April steht der deutsche Kardinal im Mittelpunkt des Geschehens. Als Kardinaldekan, gewissermaßen Vorsitzender des Kardinalskollegiums, kommt es ihm zu, am 8. April 2005 dem Requiem für den sechs Tage zuvor verstorbenen Johannes Paul II. auf dem Petersplatz vorzustehen. In seiner Predigt spricht aus jeder Silbe die tiefe Verbundenheit mit dem „Jahrhundert-Papst“.
Zehn Tage später ist Ratzinger als Dekan auch Hauptzelebrant der feierlichen Messe zu Beginn des Konklaves. Seine Predigt an diesem Montagmorgen des 18. April im Petersdom vor allen Kardinälen, anderen Würdenträgern und tausenden Gläubigen lässt an deutlicher Positionierung nichts zu wünschen übrig.
„Die Barmherzigkeit Christ ist keine billig zu habende Gnade, sie darf nicht als Banalisierung des Bösen missverstanden werden“, sagt er etwa. Er spricht über die Gefahren von Marxismus und Liberalismus, Kollektivismus, radikalem Individualismus und schließlich von der „Diktatur des Relativismus“ in unserer Zeit. Ob als Bewerbungsrede wahrgenommen oder nicht – viele Papstwähler dürften darin einen willkommenen Impuls für eine auch heute noch starke, selbstbewusste und wehrhafte Kirche gesehen haben.
Doch mehr als ein Wahlgang
Schließlich ist es auch Ratzinger, der das Konklave leitet. 115 Kardinäle ziehen am Nachmittag in die Sixtinische Kapelle ein, um den 264. Nachfolger des heiligen Petrus zu wählen. Dreieinhalb Stunden später steigt schwarzer Rauch aus dem Schornstein: Der erste Wahlgang ist abgeschlossen – ohne einen neuen Papst gewählt zu haben. Damit freilich hatte ohnehin niemand gerechnet.
Auch zwei weitere Urnengänge am nächsten Vormittag bleiben erfolglos. Erste Anzeichen dafür, dass es der Favorit der Wettbüros in der Sixtinischen Kapelle nicht so leicht hat?
Und dann wird er es wirklich
24 Stunden nach Beginn des Konklaves schließlich ist die Sache klar: Weißer Rauch für den, der in einem Seitenzimmer der Sixtinischen Kapelle die weiße Soutane des Papstes anzieht. Wiederum eine Stunde später, um 18.45 Uhr des 19. April 2005, betritt der Kardinal-Protodiakon Jorge Arturo Medina Estevez die Benediktionsloggia des Petersdoms. „Habemus papam!“, ruft er – und dann ist es klar: Joseph Ratzinger ist es wirklich geworden.
Der Favorit. Ab jetzt heißt er Benedikt XVI. – den Namen hatten nur wenige auf ihrer Liste. Und: Wieder kein Italiener – ein Deutscher, zum ersten Mal nach 482 Jahren!
Demut und Dankbarkeit
Bald darauf zeigt sich der Neue. Unerwartet gelöst, freudig, strahlend breitet er die Arme aus, unter dem weißen Rochette lugen schwarze Ärmel hervor. Nur wenige Worte sagt er, fließend auf Italienisch, natürlich mit seinem unvergleichlich deutsch-bayerischen Akzent. Gleich im ersten Satz, nahezu mit dem ersten Wort erinnert er an seinen Vorgänger: „den großen Papst Johannes Paul II.“
Benedikt XVI. spricht von Demut, von Dankbarkeit, davon, dass Gott die Gebete der Gläubigen erhört habe. Er lässt das Mikrofon zur Seite nehmen, lässt die Menschen jubeln über ihren neuen Papst. Er genießt das nicht selber, er genießt nicht den Augenblick für sich. Er lässt die Menschen sich freuen, ihren Gefühlen Ausdruck geben.
Das erste Gebet
Und dann sagt Benedikt XVI. nur die Einladung zum Gebet. Und er spricht das Gebet, auf Lateinisch. Die Menschen antworten dreimal mit einem gewaltigen „Amen“.
Er bleibt noch ein wenig, nicht sehr lange. Dann winkt er noch einmal – und geht. Es mischt sich ein bisschen Enttäuschung in die Freude bei den Tausenden unten auf dem Petersplatz. Aber Benedikt XVI. belässt es bei dem, was jetzt und hier zu sagen ist: Ein Gedenken, ein Dank, ein Gebet, ein Segen. Das klingt nach Programm, das klingt allemal nach Joseph Ratzinger.
„Deutscher Hirte“ oder „Deutscher Schäferhund“
Rings um den Vatikan, vor dem Petersplatz, auf den angrenzenden Hügeln, selbst vor der Engelsburg berichteten tausende Fernsehjournalisten live, ebenso viele mit Notizblock und Fotokamera in alle Welt. In Deutschland macht am nächsten Tag Deutschlands größte Boulevardzeitung mit einer legendär gewordenen Schlagzeile auf: „Wir sind Papst!“. Auch die linke Berliner „Tageszeitung“ beschränkt sich auf drei Wörter: „Oh mein Gott!“.
In Italien sieht es nicht anders aus: Die einen titeln „Pastore tedesco“ – was sowohl „deutscher Hirte“ als auch „Schäferhund“ bedeuten kann. Andere begrüßen den deutschen Papst als „Römer“, schwärmen von „seinen blauen Augen und seinem freundlichen Lächeln“.
Nicht im Ansatz ahnen kann zu diesem Zeitpunkt irgendwer, dass das Pontifikat Benedikts XVI. alles andere als glatt verläuft, dass es ein wahrlich schweres werden würde. Und noch weniger hätten damals ernsthaft darauf gewettet, dass ausgerechnet er mit der Tradition brechen und als Papst zurücktreten würde.