Marco Schrage vom Institut für Theologie und Frieden: Russlands Interessen sind illegitim

Experte: Putin will Ukraine destabilisieren – Gewalt bleibt eine Option

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Wie bewertet die Friedensethik den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine? Welche Interessen sind legitim, welche Optionen gibt es? Marco Schrage, Priester des Bistums Osnabrück, arbeitet beim Institut für Theologie und Frieden in Hamburg, einer wissenschaftlichen Forschungseinrichtung in Trägerschaft der Katholischen Militärseelsorge. Schrage befasst sich mit Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik in theologisch-ethischen Zugängen.

Herr Schrage, die Gefahr eines Krieges zwischen Russland und der Ukraine scheint trotz erster Entspannungssignale nicht gebannt. Wie bewerten Sie die Lage aus Sicht der katholischen Friedensethik?

Natürlich sind militärisches Bedrohen und Dominanzstreben aus friedensethischer Sicht abzulehnen. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist ein wichtiges Prinzip unserer Friedensethik. Jedes Land muss sich politisch, wirtschaftlich und kulturell frei entfalten können, es darf dabei von seinen Nachbarn nicht eingeschränkt oder gar gelenkt werden. Wir haben es aber in jedem Konflikt mit Interessen zu tun, die man gewichten muss – insofern sie ethisch legitim sind.

Was heißt das im Russland-Ukraine-Fall?


Marco Schrage. | Foto: Institut für Theologie und Frieden.

Jedes Land hat berechtigte, ethisch legitime Interessen wie gemeinwohlorientierte Selbstbestimmung in Freiheit und Sicherheit. Illegitim wäre demgegenüber, dass ein Land ein anderes dominieren will oder seine Interessen gar gewaltsam durchsetzt, weil es militärisch stärker ist.

Diese Stärke träfe auf Russland zu.

Richtig. Zugleich kann ich derzeit eine Bedrohung Russlands oder seiner Sicherheit weder durch das Handeln der Ukraine noch durch andere seiner westlichen Nachbarn erkennen.

Geht die Aggression also ausschließlich von Russland aus?

Ja, und zwar bereits seit 2013/14. Die Demokratiebewegung des „Euromaidan“ in Kiew war für Moskau ein „Worst Case“. Russlands Präsident Wladimir Putin versucht seitdem, die Demokratie in der Ukraine zu destabilisieren, um Einfluss in einem der früheren Satellitenstaaten zu behalten. Das wird mit Sicherheitsinteressen begründet, bleibt aber ethisch letztlich illegitim. Die Destabilisierung ist in den ostukrainischen Gebieten Donezk und Luhansk gelungen. Dann kam es nach den Präsidentenwahlen 2020 in Belarus auch dort zu Protesten – sicher auch durch den „Euromaidan“ ermutigt. Sie wurden mit Hilfe Russlands niedergeschlagen, die Entwicklung war aber ein weiterer Warnschuss für Putin. Aus seiner Sicht musste es ihm nun umso mehr gelingen, die Ukraine zu destabilisieren.

Macht das ein militärisches Vorgehen zwingend?

Nein, aber es bleibt eine Option für Russland. Staaten lösen Konflikte gewaltförmig per Eskalation, rechtsförmig mittels Streitschlichtung oder gütlich durch Verträge. Solche Verträge liegen im Fall Ukraine auf dem Tisch – die Minsker Abkommen. Sie sind aber relativ unklar formuliert. Russland liest sie so, dass die Ukraine den Gebieten Donezk und Luhansk Autonomiestatus gewähren muss und die beiden Regionen – und damit faktisch Moskau – in innenpolitischen Prozessen mitreden dürfen. Dieser von Russland so gesehenen Verpflichtung kommt die Ukraine seit 2014/15 nicht nach.

Welche Vertragslösung können Sie sich vorstellen?

Schwer zu sagen. Wenn Menschen miteinander streiten und sich nicht gütlich einigen können, ziehen sie womöglich irgendwann vor Gericht und unterwerfen sich dessen Urteil. Ein solches „Gericht“, eine neutrale Stelle, auf deren Urteil sich Russland und die Ukraine einlassen könnten, sehe ich im Moment nicht. Deshalb muss der Westen natürlich weiter versuchen, beide Seiten von Zugeständnissen zu überzeugen.

Also auch die Ukraine, obwohl Russlands Interessen ethisch illegitim sind?

Ja. Denn wenn es zu keiner Einigung kommt, bleibt immer noch die Frage, ob Putin andere Wege geht, die Ukraine zu destabilisieren – womöglich gewaltsame. Die westlichen Staaten werden nicht mit eigenen Truppen militärisch eingreifen. Es ist die Aufgabe des Westens, die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts der Ukraine so weit wie möglich zu erschweren oder zu verhindern. Dazu kann das Liefern von Verteidigungswaffen gehören, etwa gegen Panzer, das Liefern von Aufklärungstechnik, Nachtsichtgeräten oder Schutzausrüstung für Soldaten. Auch wenn sie belächelt wurde – die deutsche Lieferung von Helmen passt in dieses Konzept. Ich denke allerdings, Deutschland hätte diesbezüglich mehr tun können.

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