Gertrud Weßler erlebte ihr letztes Lebensjahr in der Pandemie

Ihre Träume für die Zeit nach Corona bleiben unerfüllt

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Im Altenpflegeheim Friedrichsburg in Münster lebte die 93-jährige Gertrud Weßler seit einem Jahr mit den Einschränkungen der Corona-Pandemie. Sie sehnte sich nach einer Normalität, die sie nicht mehr erleben sollte.

Er sagt, er habe sich die Frage schon selbst gestellt. Jetzt, wo sie offen ausgesprochen im Raum steht, kämpft er trotzdem sichtlich mit der Antwort. Warum musste das letzte Jahr seiner Mutter ausgerechnet in die Pandemie fallen?

Walter Weßler lässt sich zurückfallen in den Sessel im Wohnzimmer seines Bungalows in Münster-Hiltrup. Der 72-Jährige atmet tief durch, seine Lippen werden schmal, er nickt nachdenklich. „Es ist tragisch, dass wir ihr nicht mehr die vielen Wünsche erfüllen konnten, die sie noch hatte“, sagt er dann leise. Jetzt nickt auch seine Frau Ruth, die neben ihm Platz genommen hat.

 

Die kleinen Freuden vermisst

 

Es waren nicht die großen Dinge, nicht die Weltreise oder das große Fest. Das hätte die 93-Jährige ohnehin überfordert. In Seniorenwohnheim Friedrichsburg in Münster war sie nur noch mit dem Rollator mobil. Vor der Tür, etwa bei Spaziergängen um den nahen Aasee, war sie auf den Rollstuhl und fremde Hilfe angewiesen.

Es waren eher die kleinen Freuden, die ihr wegen der Corona-Maßnahmen nicht möglich waren. „Sie wäre so gerne noch einmal mit uns zu ihrem Lieblings-Italiener essen gegangen“, sagt ihr Sohn. „Pizza Salami war dann ihr Favorit.“

 

Geradeheraus, praktisch, lebensfroh

 

Als im vergangenen Jahr kurz vor Ostern der Lockdown auch die Bewegungs- und Besuchsfreiheit in der Friedrichsburg minimierte, flossen bei ihr bereits einige Tränen. Sie war immer gesellig, liebte die Veranstaltungen im Haus, ob Konzert, Bastelrunden oder Gottesdienste. Das alles gab es von einem Tag auf den anderen nicht mehr.

Besonders der Weg in die Kapelle fehlte ihr, weiß ihr Sohn. „Sie war auf ihre eigene Art religiös.“ Geradeheraus, praktisch, lebensfroh – so wie Gertrud Weßler halt war. „Es gibt nur einen Gott, keinen katholischen hier und einen evangelischen da“, sagte sie einmal. „Ich gehe zu jedem Gottesdienst in die Kapelle.“

 

Treffen am Fenster auf Distanz

 

Diese Gänge fehlten ihr nun genauso wie die Besuche ihrer zwei Söhne mit ihren Frauen, der Enkel und Urenkel. Zunächst gab es überhaupt keine Möglichkeit dazu. Die Unsicherheit war in jenen Tagen noch sehr groß, wie der Kontakt organisiert werden sollte.

Viel an Geselligkeit blieb zunächst nicht. Zusammentreffen sahen bald so aus, dass sie am geöffneten Fenster saß und eine Person mehrere Meter entfernt für kurze Zeit mit ihr sprechen konnte.

 

„Die Pandemie schaffe ich auch noch“

 

Ruth und Walter Weßler mit der Ausgabe der Kirche+Leben vom März 2020, in der über die Situation von Gertrud Weßler im Seniorenwohnheim berichtet wurde. | Foto: Michael Bönte
Ruth und Walter Weßler mit der Ausgabe der Kirche+Leben vom März 2020, in der über die Situation von Gertrud Weßler berichtet wurde. | Foto: Michael Bönte

Auch Kirche+Leben sprach damals aus großer Entfernung mit ihr und erlebte eine Frau, die sich trotz der vielen Sorgen und Ungewissheiten rüstig und positiv zeigte. „Ich habe schon viele schwere Zeiten durchgestanden“, sagte sie damals. „Da schaffe ich die Pandemie auch noch.“

Und so richtete sie sich in der Situation ein, las viel auf ihrem Zimmer, nahm an den noch möglichen Angeboten in ihrer kleinen Wohngruppe teil und sang Lieder aus ihrer Jugend. „Ich möcht´ noch einmal 20 sein…“ Auch mal mit Tränen in den Augen.

 

Erste Kontakte

 

Mit der Zeit wurden wieder andere Formen der Begegnung möglich. Wenn auch aufwändig. „Die Vorkehrungen wurden immer umfangreicher“, erinnert sich ihr Sohn. „Erst kam das Fiebermessen, dann der Meldebogen und schließlich der Schnelltest.“

Dadurch wurde aber zumindest wieder eine mittelbare Nähe möglich. Walter Weßler nutzte sie zwei Mal die Woche, saß in ihrem Zimmer und hörte viel zu. „Sie berichtete aus dem reduzierten Alltag, den sie erlebte“, erinnert er sich. „Vom Essen, von dem Kleid der Mitbewohnerin, von der Fernsehsendung am Vortag.“

 

Gemeinsames Singen gegen den Corona-Blues

 

Und natürlich sangen sie zusammen, das hob die Stimmung. „So gut, wie das mit meiner Maske möglich war“, sagt er. Meistens Seemannslieder – die gehörten schon immer zu ihrem gemeinsamen Repertoire. Walter Weßler ist lange Zeit zur See gefahren und singt in einem Shanty-Chor. „La Paloma“ und „Junge, komm bald wieder“ gehörten zu dem Potpourri, das sie gemeinsam beherrschten.

Die Besuche in ihrem Zimmer waren immer eine Mischung aus großer Freude und ein wenig Traurigkeit, sagt Weßler. „Sie war glücklich, wenn ich zu ihr kam, wenn ich ihr aber gegenübersaß, bat sie mich oft, die Maske abzulegen.“

Sie wollte das Gesicht ihres Sohns sehen, nicht die ganze Zeit auf die Requisite der Pandemie schauen. „Wenn ich ihr erklärte, dass das nicht ginge, war ihre Enttäuschung zu sehen.“ Denn dieser schöne gemeinsame Moment behielt für sie damit eine Barriere. „Ich durfte sie ja auch nicht in den Arm nehmen.“

 

Alltagsrhythmus gegen das Triste

 

Die täglichen Anrufe, die Besuche von ihm und seiner Frau, auch die wöchentliche Anreise seines Bruders von der Nordseeküste brachten einen verlässlichen Rhythmus in den Corona-Alltag von Gertrud Weßler. Sie konnte mit diesen Momenten rechnen, das nahm der Zeit viel von ihrem Tristem.

Aus der Kapelle wurden die Gottesdienste auf ihren Fernseher übertragen. Auch die Pflegerinnen und Betreuerinnen machten einiges möglich. Mit dem Rollstuhl ging es nach draußen, in den Garten der Friedrichsburg, manchmal an den Aasee. Hin und wieder gab es Konzerte – dann spielten die Musiker vor dem Gebäude und die alten Menschen hörten an den offenen Fenstern zu.

 

Die Schwere blieb

 

Trotzdem blieb in diesen Monaten eine Schwere, die sonst nicht da gewesen wäre, sagt Walter Weßler. „Es fehlte die Freiheit, das zu tun, wofür sie gerade Energie hatte, was sie sich gerade wünschte.“ Das Treffen in großer Familienrunde vermisste sie oft – Besuche waren auf ein oder zwei Personen beschränkt. „Gerade zu Weihnachten schmerzte sie das.“

Oder der kurze Gang über die Flure für einen besinnlichen Moment in der Kapelle – die Bewegungsfreiheit im Haus war durch die Corona-Maßnahmen weiterhin eingeschränkt. Auch bei den Abschieden nach den Besuchen fehlten ihr und ihrem Sohn der gemeinsame Weg ins Foyer, wo sie sich sonst umarmten. „Sie blieb auf ihrer Etage, stand am Fenster und winkte mir nach“, sagt er. „Ich habe mich auf dem Weg zum Auto immer wieder umgedreht und zurückgewinkt.“

 

Träume für die Zeit danach

 

Das Foto aus der Kirche+Leben war auf der Trauerkarte abgedruckt und stand neben dem Sarg von Gertrud Weßler in der Friedhofskapelle. | Foto: Michael Bönte
Das Foto aus Kirche+Leben war auf der Trauerkarte abgedruckt und stand neben dem Sarg von Gertrud Weßler in der Friedhofskapelle. | Foto: Michael Bönte

In diesem Korsett wuchsen viele Träume für die Zeit danach. Auch davon erzählte sie Walter Weßler jedes Mal. Zum Beispiel der von der gemeinsamen Feier der Goldenen Hochzeit ihres Sohnes im kommenden Herbst. Oder der von der Reise an die Nordsee zum neuen Haus des anderen Sohnes. „Wenn Corona vorbei ist, können wir das endlich machen“, war ihre Hoffnung. Sie sollte sich nicht mehr erfüllen.

Als er Anfang März den Anruf bekam, dass seine Mutter im Sterben liege, war das unwirklich für ihn, sagt ihr Sohn. „Zu plötzlich, abrupt, unmittelbar.“

Auf seinem Sofa kämpft er wieder hörbar um die richtigen Worte. Seine Frau blickt zu ihm hinüber, in Augen, die sich mit Tränen füllen. Wenige Wochen zuvor hatte Gertrud Weßler ihre zweite Covid-19-Schutzimpfung bekommen. Sie war wohlauf, musste keine Angst mehr vor der Krankheit haben und wartete auf bevorstehende Lockerungen in ihrem Alltag. „Nur zwei Tage vorher hatte ich sie noch besucht“, sagt ihr Sohn. „Sie war zuversichtlich, freute sich auf den Frühling.“

 

Sie war müde geworden

 

Als er und seine Frau wenig später in der Friedrichsburg eintrafen, war seine Mutter bereits gestorben. „Friedlich eingeschlafen“, sagt er.

Eigentlich so, wie sie es sich gewünscht hatte. Und doch in einem Moment, der ihr Energie hätte geben müssen. Sie hatte den Ballast der Pandemie gemeistert, leichtere Zeiten standen bevor. „Vielleicht hat sie auf diesem Weg aber auch viel Kraft gelassen“, sagt ihr Sohn. „Sie sei müde, hat sie in ihren letzten Wochen oft gesagt.“

 

Der Abschied

 

Der Abschied von ihr war noch einmal ein Spiegel dessen, was ihrem letzten Jahr besondere Tragik gab. Die Enge der Corona-Maßnahmen war auch bei der Trauer und der Beisetzung präsent. Und trotzdem hatten sie vieles von der Fröhlichkeit, die sie mit ihrer Familie in der Pandemie-Zeit immer wieder geschaffen hatte.

In ihrem Zimmer, wo sie mit ihrem Sohn noch wenige Tage zuvor gesungen hatte, kamen sie noch einmal zusammen – Angehörige, Pfleger, Seelsorge und Mitbewohner – in kleinen Gruppen, mit Maske, ohne Gesang. Corona ließ immer noch nichts anderes zu. Sie standen auch Spalier, als Gertrud Weßler hinausgetragen wurde.

 

Winken zum Abschied

 

Das Foto der alten Dame, das vor einem Jahr in Kirche+Leben abgedruckt gewesen war, stand schließlich neben ihrem Sarg in der Friedhofskapelle. Darauf lächelt sie. Fein gekleidet und geschminkt hebt sie die Hand. „Es wirkte so, als wolle sie uns zum Abschied noch einmal allen fröhlich zuwinken.“

Allen – das war nur der kleine Kreis, der erlaubt war. Gesungen werden durfte auch nicht. Die Corona-Regeln forderten, dass die Musik vom Band kam. Dieses Mal keine Shantys, sondern ein Lied, das sie selbst gern für sich gesungen hat. In Corona-Zeiten manchmal allein in ihrem Zimmer: „Niemals geht man so ganz…“

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