Themenwoche Wallfahrt (4): Interview mit Wallfahrts-Experte Stephan Steger

Pilgern - mehr als spiritueller Ego-Trip oder Volkskirchen-Nostalgie?

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Pilgern als spiritueller Egotrip, Wallfahrten als nostalgische Volkskirchen-Welt? Und ticken die Uhren in Bayern ganz anders? Stephan Steger, Wallfahrts-Experte aus Würzburg, hat die Antworten.

Herr Steger, trotz Kirchen- und Glaubenskrise weit über Deutschland hinaus: Pilgern bleibt ein Boom – etwa auf dem Jakobsweg. Wie kommt's?

Für gewöhnlich haben Gottesdienst und Glaubensgestaltung viel mit unserem Alltag zu tun, mit dem man groß geworden ist, sich auch daran gerieben hat. Pilgern aber führt aus diesem Gewohnten hinaus. Wer pilgert, verlässt das Lebensumfeld auf neuen, unbekannten Wegen. Darin ist immer noch etwas zu spüren von der christlichen Ur-Wallfahrt des Mittelalters, nämlich der nach Jerusalem. Da ließ man ja wirklich das komplette Leben hinter sich. Über Monate. Keiner konnte wissen, ob oder wie man heimkehrte. Daraus hat sich dann die Wallfahrt nach Rom und Santiago de Compostela entwickelt – und als das alles nicht mehr so recht ging oder zu beschwerlich wurde, haben sich daraus unsere Wallfahrtsorte entwickelt.

Was allerdings nicht nur ein christliches Phänomen ist. Ist Pilgern ein menschliches Urbedürfnis?

Vor allem sind Wallfahrten durchlässig für Angehörige anderer Religionen. Während man im christlichen Gottesdienst womöglich auffiele, weil man sich nicht so recht auskennt, passiert das beim Pilgern nicht. Laufen kann schließlich jeder! Das Weggehen und die Freiheit in der Form – das macht das Pilgern wohl so attraktiv. Auch das Individuelle dürfte wichtig sein, erst recht, wenn man einzeln unterwegs ist. Jeder entscheidet für sich: Wie viel bete ich? Bete ich überhaupt? Gehe ich nur? Ist mein Gehen schon Beten? Selbst in der Gruppe mit bis zu 700, 800 Pilgern bleibe ich Individuum.

Was unterscheidet eigentlich Pilgern von Wallfahren? Das eine eher individuell, das andere eher traditionell-gemeinschaftlich?

Themenwoche „Wallfahrt 2024“:
In diesen Tagen beginnt die Wallfahrtssaison im Bistum Münster. Kirche+Leben schaut in der Themenwoche nach Kevelaer, stellt einen begeisterten Motorradpilger vor, fragt nach dem Sinn und Reiz des Pilgerns, gibt einen Überblick über die wichtigsten Orte und Termine und stellt besondere Wallfahrten in der Diözese vor.

Das wird in der Tat oft so unterschieden, wenngleich beides eigentlich dasselbe meint. Beiden ist gemeinsam, dass es eine sehr individuelle Frömmigkeitsform ist. Beim Wallfahren bette ich mich in eine Gemeinschaft, die mich trägt. Und beim Pilgern lasse ich mich auf mich selber zurückfallen. Meine Mutter ist nach ihrer Pensionierung drei Monate nach Santiago de Compostela gelaufen, und sie wollte das bewusst ganz allein machen.

Ohne Blasen gehen weder Pilgern noch Wallfahren. Welche Rolle spielt die körperliche Erfahrung, der körperliche Einsatz?

Davon kann ich aus eigener Erfahrung Lieder singen! Wenn ich bei unserer Kreuzbergwallfahrt mit 600 Pilgern über vier Tage in der Sommerhitze täglich bis zu 50 Kilometer laufe, dann ist das eine ziemlich handfeste körperliche Grenzerfahrung! Die eigenen Grenzen zu erfahren und zu überwinden – auch das ist der Sinn der Wallfahrt, des Pilgerns.

Worum geht es bei dieser Kreuzbergwallfahrt, was fasziniert Sie persönlich?

Die Wallfahrt entstand 1647 nach den Entbehrungen des Dreißigjährigen Kriegs (1618-1648). Der Kreuzberg ist die höchste Erhebung Unterfrankens, knapp 80 Kilometer von Würzburg entfernt. Dahin wallfahren wir zwei Tage hin und zwei Tage zurück. An dem Heiligtumsberg mit Kreuzweg und Wallfahrtskirche gedenkt man des Leidens, Sterbens und der Auferstehung Jesu. Unser zentrales Glaubensgut wird dort also als Wallfahrtssziel verehrt – das fasziniert mich sehr.

Wie muss man sich die Wallfahrt selber vorstellen, was geschieht unterwegs?

Diese Wallfahrt ist ganz stark vom Beten geprägt. Und die Gebete sind teilweise 300 bis 400 Jahre alt – damit werden moderne Gebete kombiniert.

Und die alten Gebete bewegen die Menschen nach wie vor?

Manche finden sie schon befremdlich. Uns, die wir lange Zeit mitpilgern, sind sie wichtiger als denen, die neu dazukommen. Die barocken Texte lassen sich tatsächlich so einbetten ins Laufen, dass es leichter wird. Das ist eine Kunst! Und dann wird Tradition auch zu einem Wert. Ähnliches gilt für die Lieder. Die würde ich im Gotteslob nie sehen, weil sie schon ziemlich schwülstig sind. Aber auch sie sind für die Wallfahrt geschrieben und unterstützen das Beten im Laufen. Das Wallfahren selber prägt sicherlich mehr als das, was gebetet wird.

Ist das auch Sehnsucht nach der immer stärker verschwindenden Volkskirche? Heile Welt für kurze Zeit?

Eine Wallfahrt ist eine geschlossene Welt, das stimmt. Ob’s eine heile Welt ist, weiß ich nicht. Eine Anderswelt, ja, das schon. Aber mit der Sehnsucht nach einer vergangenen Kirche hat die Wallfahrt nichts zu tun. Es ist schon etwas ganz Eigenes.

Welche neuen Formate fallen Ihnen auf? Es gibt ja Wohnmobilwallfahrten, Rollerscaterwallfahrten, Dackelwallfahrten, neue Formen von Kultur-Angeboten, die Musik, Texte, Installationen verbinden … Was halten Sie davon?

Ich muss gestehen, da sind wir im Süden Deutschlands wohl tatsächlich konservativer. Für uns gilt es schon modern, wenn wir uns jetzt endlich bei unserer Kreuzbergwallfahrt von der zweiten Eucharistiefeier am Tag getrennt haben.

Zwei heilige Messen an einem einzigen Tag?

Genau! Das kommt aus der Zeit des Nüchternheitsgebots. Man ging früh in die Messe – oder besser, um zur Kommunion zu gehen und dann frühstücken zu können – und ist danach losgepilgert. Und dann gab es später die feierliche Pilgermesse mit Predigt. Wir haben viele Jahre diskutiert, um das zu verändern. Die Wallfahrt war insgesamt eucharistielastig. Inzwischen feiern wir auch ein Lichter-Abendlob! Das ist für uns was Neues, obwohl es für Sie wahrscheinlich schon angestaubt ist (lacht). Aber immerhin: Bei uns gibt es schon lange Motorradwallfahrten, während an anderen Orten noch Traktorwallfahrten als Innovation gelten und sich großer Beliebtheit erfreuen.

Wallfahrten und Pilgern sind Anderszeiten und Andersorte. Was könnte die Pfarrseelsorge davon lernen?

Nichts! Das ist der Charme der unterschiedlichen Formen. Wir müssten noch viel mehr anerkennen, dass menschliches Leben vielfältig tickt und die Form kasernierter Vorort-Organisation nicht mehr dem Lebensgefühl entspricht. Auch darum gilt es, rauszugehen, den Alltag hinter sich zu lassen und die dafür geeigneten Formen zu pflegen. Deshalb funktionieren die großen Familien-, Regionen- oder Bistumswallfahrten! Den Pfarreien vor Ort bringen sie nichts. Aber Menschen, die sie erleben, sagen immer wieder: Die Pilgerreise waren die wichtigsten fünf Tage meines Glaubenslebens.

Waren Sie als Würzburger eigentlich schon in Kevelaer? Wenn ja: Wie fanden Sie’s? Wenn nein: Warum nicht?

Ich bekenne: Ich war noch nie in Kevelaer. Aber ich habe trotzdem eine wunderbare Vorstellung von Kevelaer, weil ich zu einer Gruppe zur Vorbereitung des neuen Gotteslobs gehörte und dort viel mit Richard Schulte-Staade (+ 2020) zu tun hatte, dem langjährigen Wallfahrtsrektor in Kevelaer. Wir haben bei den Sitzungen live das Wallfahrtsgeschehen dort mitbekommen, weil er immer wieder zuhause anrief und Order erteilte (lacht). Aber im Ernst: Ich habe die Vorstellung, dass Kevelaer ein unheimlicher Schmelztiegel des Glaubens ist!

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