Interview mit dem Journalisten und Biografen Matthias Drobinski

Revolutionär und Reaktionär: Johannes Paul II. zum 100. Geburtstag

100 Jahre wäre Papst Johannes Paul II. am 18. Mai geworden. Dazu haben die Journalisten Matthias Drobinski und Thomas Urban eine Biografie vorgelegt. Im Interview spricht Drobinski über Verdienste und Widersprüche des Papstes.

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Gemeinsam mit dem langjährigen Osteuropa-Korrespondenten Thomas Urban hat Matthias Drobinski (55), Kirchenexperte der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ), eine neue Biografie zum 100. Geburtstag von Karol Wojtyla/Papst Johannes Paul II. am 18. Mai vorgelegt. Im Interview spricht Drobinski über Verdienste, Widersprüche und Fehler des heiliggesprochenen „Jahrhundertpapstes“.

Herr Drobinski, gemeinsam mit Ihrem SZ-Kollegen Thomas Urban haben Sie den vielen Biografien über Papst Johannes Paul II. eine weitere hinzugefügt. Warum?

Ganz praktisch: weil er im Mai 100 Jahre alt wird. Das ist schon ein Anlass, Bilanz zu ziehen. Zudem gab es in Polen auch neue Veröffentlichungen über die Geheimdienstakten. Und: Von den bisherigen Biografien werden nur wenige der Komplexität dieses faszinierenden Mannes gerecht.

Ihre Hauptthese ist, Johannes Paul II. sei Revolutionär und Reaktionär in einer Person gewesen.

Er war in mehrfacher Hinsicht revolutionär. Von der Herkunft interessanterweise durchaus von der liberalen Seite der katholischen Kirche Polens. Angefangen davon, dass er mit den jüdischen Jungs Fußball spielte, bis dahin, dass er sich als Student bei einem sehr traditionellen Lehrer als Habilitation ein Doktorthema zum Miteinander von moderner Philosophie und Theologie wählte. Da brachte er Neues in die Kirche. Auch was er über Liebe und Verantwortung schrieb, von der „Wonne der Sexualität“ zwischen Eheleuten etwa, gehörte damals innerkirchlich durchaus auf die revolutionäre Seite. Und seine Skepsis gegenüber dem Materialismus ...

... und auch gegenüber dem Kapitalismus.

Richtig. Der Mensch lebt, um wirklich Mensch zu sein - über die rein materielle Existenz hinaus. Die Würde der Person zeigt sich nicht als eine Summe ihrer Umstände - wie im Kommunismus - oder als Summe ihrer Leistungsmöglichkeiten wie im Kapitalismus. Solche Reduzierungen sah er als Verletzungen der Menschenwürde. Die Kirche war für Johannes Paul II. nicht nur dazu da, den Menschen ins Paradies zu geleiten - sie steht für die Personenwürde aller Menschen. Das war schon durchaus revolutionär.

Und der Reaktionär?

... gründet in seinen Lebenserfahrungen. Karol Wojtyla ist in einer Volkskirche großgeworden, die sich immer im Widerstand befand: gegen die deutsche Besatzung, dann gegen die Kommunisten. Seine Erfahrung aus der polnischen Untergrundkirche war: Wir sind nur dann stark und dann gut, wenn wir zusammenstehen; wenn zwischen uns keine Lücke entsteht.

Das heißt also: Innerkirchliche Diskussionen sind unangebracht.

Er war ja einerseits ein toleranter Papst - im Verhältnis zu den Juden, zu den Muslimen, auch zu Atheisten. Er hatte ja immer auch atheistische Freunde. Aber ein westlicher Pluralismus - also sich als Kirche und in der Kirche als einer unter vielen in der Diskussion behaupten zu müssen - das war ihm fremd, ja sogar eine Bedrohung. Das war ein Punkt, mit dem die Kommunisten einen Spalt in die Kirche treiben wollten. Die Kampfkraft der Kirche lag aus seiner Sicht in ihrer Einigkeit.

Während die Kirche selbst erst lernte, verschiedene Positionen auszuhalten und den Diskurs zu pflegen.

Das empfand er als problematisch. Dieses Denken sieht man in vielen seiner Entscheidungen, etwa seinen Bischofsernennungen bis hin zum Umgang mit sexualisierter Gewalt: Wir dürfen uns nicht spalten lassen, wir müssen kampffähig bleiben für die Menschenwürde. So wurden viele wichtige Debatten in der Kirche zum Stillstand gebracht; eine Behinderung bis zum Diskussionsverbot.

Worin sehen Sie seine größte Lebensleistung?

Politisch ganz klar in seinem Beitrag zur Überwindung der kommunistischen Diktatur. Das ist ein Teil der Weltgeschichte - darunter geht es tatsächlich nicht. Die kulturelle Stärke, die er vermittelte, die in Polen 1979 die Leute dazu brachte, all das, was die Kommunisten an Macht, Panzern und Geheimdienst aufgebaut hatten, über den Haufen zu werfen. Jeder zweite erwachsene Pole pilgerte damals, um den Papst zu sehen. Das hat den Kommunismus erschüttert. Das ist eine weltgeschichtliche Leistung.

Und das „Mea culpa“ vor 20 Jahren, sein großes Schuldbekenntnis der Kirche zum Jahr 2000?

Auch da hatte er eine Klarheit, mit der er sich gegen große Skepsis im Vatikan durchsetzte. Joseph Ratzinger hätte das, denke ich, vorsichtiger formuliert. Ein berührender Moment, wie der Papst an der Schwelle zum neuen Jahrtausend niederkniete und in einer Mischung aus Demut und dem Bewusstsein des historischen Augenblicks sagte: Wir erklären heute, wo wir gesündigt haben.

Zur gleichen Zeit rollte aber auch schon die historische Welle von sexuellen Missbrauchsfällen auf die Kirche zu.

BUCH-TIPP
Buch-CoverMatthias Drobinski / Thomas Urban: Johannes Paul II. - Der Papst, der aus dem Osten kam, Verlag C. H. Beck, München 2020, 336 S., 24,95 Euro. ISBN 978-3-406-74936-0.
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Ja; das war aus heutiger Sicht sein größter Fehler, diese Krise unterschätzt zu haben. Auch wenn man ein paar Dinge entschuldigend anführen kann, etwa den damaligen Stand der Wissenschaft: Unter dem Strich war für ihn eine starke, unverwundbare Kirche wichtiger als der Blick auf die Opfer. Das kann man an vielen Beispielen sehen, wo Johannes Paul II. alle Zeichen übersah: beim Wiener Kardinal Hans Hermann Groer; in Boston 2002; am dramatischsten im Umgang mit Marcial Maciel. Der Gründer der Legionäre Christi wurde vom Papst geschützt, obwohl es schon früh glaubwürdige Zeugenaussagen gab, dass dieser Mann ein Gewalttäter war.

War ihm das denn egal?

Maciel stellte der Kirche eine Art Kampftruppe zur Seite; er stand auf der Seite des Papstes. Da war das taktische Argument stärker, sich nicht durch das Einräumen von Schwäche und verbrecherischen Strukturen spalten zu lassen. Was diesen Papst im Kampf gegen die Kommunisten stark machte, führte im Umgang mit der sexuellen Gewalt in die Katastrophe.

War denn, auch vor diesem Hintergrund, das „Santo subito“, seine sehr schnelle Heiligsprechung, richtig - oder eher ein Risiko?

Er hatte ja diese unglaubliche magnetische Wirkung. Millionen Menschen strömten nach Rom, um den sterbenden und gestorbenen Papst noch einmal zu sehen. Als Historiker wäre ich dafür, immer ein bisschen abzuwarten, bis man solche Urteile trifft. Vertretbar ist es aber, wenn man den Begriff von Heiligkeit nimmt, wie ihn Papst Franziskus verwendet, nämlich: Ein Heiliger ist kein perfekter Mensch, sondern auch jemand mit Widersprüchen, Fehlern und Grenzen - der aber aus seiner Sicht ganz für die Menschen gearbeitet hat.

Wer ist Johannes Paul II. für Sie persönlich gewesen?

Erstmal war er, als ich in den 80er Jahren in der katholischen Jugendarbeit aktiv war, derjenige, an dem wir uns abgearbeitet haben; der beim Umgang mit Sexualität andere Vorstellungen hatte als wir; der die Theologen maßregelte, die wir klasse fanden; der die Befreiungstheologie begrenzen wollte, die uns fasziniert hat. Mein Zugang änderte sich, als ich mich ihm journalistisch näherte - etwa dem kapitalismuskritischen Papst; der bis zum Schluss mit schwindenden Kräften gegen den Irak-Krieg kämpfte; der US-Präsident George Bush klar die Meinung geigte. Vielleicht schafft dieses Buch nun auch persönlich Gerechtigkeit gegenüber einem Mann, der eben diese beiden Seiten hatte: der mich damals empörte und mich bis heute fasziniert.

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