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Sie hätte allen Grund, auf dem Sofa sitzen zu bleiben. Sie tut es nicht. Sie steht auf. Nicht ihretwillen. Nicht, um sich Wünsche zu erfüllen oder sich selbst zu verwirklichen. Sie macht sich für andere Menschen auf den Weg. Es sind die Flüchtlinge in Ascheberg und Umgebung, für die sie sich jeden Tag stark macht. Für die sie Kleidung besorgt, ihnen im Alltag hilft, Deutschunterricht gibt. Und am Ende, sagt sie, tut sie es doch auch für sich. „Die Erlebnisse mit diesen Menschen sind so unglaublich wertvoll, dass ich mich selbst oft wie die Beschenkt fühle.“
Roswitha Reckers ist Frührentnerin. Das hat Gründe. Nach vielen Jahren in der Arbeit mit Langzeitarbeitslosen meldete sich ihr Körper. Die Diagnose: Athritis. Ihre Gelenke sind chronisch entzündet, große Belastungen sind nicht mehr möglich. Die Verrentung hatte Folgen für die 57-Jährige: „Finanziell bedeutete das einen harten Schnitt für mich.“ Der Lebensstandart musste zurückgefahren werden. Ihre Lebensmittel holt sie sich seither von der Tafel in Ascheberg.
Ehrenamt muss sein
Es spricht viel dafür, dass sie sich erst einmal um sich kümmert. Und um ihren Mann, ihre Tochter und ihren Enkel, mit denen sie zusammenlebt. Das soziale Engagement steckt ihr aber in den Knochen. Schon immer war sie ehrenamtlich für andere im Einsatz. Eine Begegnung vor etwa sechs Jahren zeigte ihr, dass sie nicht davon lassen konnte. So sehr die Gelenke auch schmerzten.
„Ich habe aus Mitgefühl angehalten, nicht aus Mitleid“, sagt Recker, als sie von ihrer Autofahrt durch Ascheberg erzählt. Eine hochschwangere Frau schleppte ihre Einkaufstüten zur Flüchtlingsunterkunft. „Wer selbst einmal schwanger war, kann die Anstrengungen nachvollziehen.“ Also hielt sie an und nahm die Afrikanerin mit. Vor der Unterkunft saßen sie lange im Auto und „quatschten“, erzählt sie. Das Gespräch beendete ihre Mitfahrerin mit Worten, die Reckers aufhorchen ließen: „Ich bin jetzt schon so lange hier in Ascheberg – aber gesprochen hat noch keiner mit mir.“
Selbstverständlich helfen
Die Aschebergerin fragte sich damals, warum. „Eigentlich müsste es doch eine Selbstverständlichkeit sein, Gäste in unserem Ort zu begrüßen.“ War es aber lange Zeit nicht, sagt sie. „Es war vor dem großen Flüchtlingszustroms durch den Syrien-Krieg.“ Und fügt augenzwinkernd hinzu: „Deshalb war es noch kein Trend, die Ankömmlinge mit Teddy-Bären zu bewerfen.“ Die Migranten waren damals noch kein so großes Thema. „Die meisten von uns haben sich doch nur um ihre Arbeit, ihr Haus und ihren Kegelverein gekümmert.“
Ihre Begegnung mit der schwangeren Afrikanerin holte sie aus diesen Grenzen heraus. Sie gab ihr ihre Telefonnummer und bekam einige Tage später den ersten Anruf. Zunächst ging es nur um einen Brief im Behördendeutsch, den die Flüchtlingsfamilie nicht verstand. Schnell wurden daraus Besuche, neue Begegnungen in der Unterkunft und viele weitere Briefe, bei denen sie helfen musste. „Was für ein Glück“, sagt Reckers. „Ich hatte einer Frau geholfen und konnte jetzt vielen weiteren Menschen zur Seite stehen.
Deutschunterricht am Küchentisch
Hilfe mit der deutschen Bürokratie war das eine. Die deutsche Sprache das andere. Viele der Flüchtlinge hatten einen Aufenthaltsstatus, in dem ihnen kein Sprachunterricht zustand. Also schaffte sie selbst die Möglichkeit, daheim an ihrem Küchentisch. „Dort saßen wir uns bald auf dem Schoß“, erinnert sich Reckers an den großen Zulauf. Sie bekamen einen Raum bei der Tafel. Aber auch der wurde schnell zu klein. Schließlich siedelten sie um in das Gemeindehaus der evangelischen Kirche in Ascheberg. Zwei Mal die Woche kommen bis zu 25 Teilnehmer. Sie und zwei weitere Helfer geben Unterricht.
Immer wenn Roswitha Reckers die Flüchtlinge trifft, liegen neue Probleme auf den Tisch. „Es ist gut, dass es in Ascheberg mittlerweile viele Helfer gibt.“ Eine Aufgabe hat sie aber noch zu ihrer eigenen gemacht. Auch dafür war eine besondere Begegnung verantwortlich. Drei afrikanische Flüchtlinge standen im Winter vor ihr und froren fürchterlich. „Nur im Pullover, die Flip-Flops an den Füßen, keine Socken.“ Seitdem hat sie eine Kleiderkammer aufgebaut, in der sie Spenden sammelt.
Strahlende Augen
Es gibt die Tage, an denen die Gelenke so schmerzen, dass sie auf dem Sofa sitzen bleiben möchte, sagt Reckers. „Würde ich es tun, würde es mir aber noch mehr weh tun.“ Sie würde die vielen Momente verpassen, in denen sie spüren kann, wie wertvoll ihr Einsatz für die Flüchtlinge ist. Als die alte Frau aus Nigeria die ersten Buchstaben ihres Lebens mit dem Bleistift aufs Papier brachte, war so ein Augenblick. „Die strahlenden Augen werde ich nie vergessen.“ Oder der alte Mann in der Flüchtlingsunterkunft, den ein grippaler Infekt erwischt hatte. Reckers kam mit ihrem Kochtopf von daheim: „Jemand, der hustet, braucht eine heiße Hühnersuppe – egal aus welchem Land er kommt.“
Wenn es um die Kinder der Flüchtlinge geht, erzählt sie „ganz besonders intensive Erlebnisse“. Dann holt sie gern mal ihr Handy heraus und zeigt Fotos. Auch von dem Baby der Frau aus Nigeria. Weil deren Mutter nicht in Deutschland war, musste sie mit zur Entbindung.
„Mama Roswitha“
Reckers durfte dann auch die Tradition übernehmen, dass die Großmutter dem Schwiegersohn als erste den Neugeborenen zeigt. „Seitdem gehöre ich zur Familie.“ Viele der Flüchtlinge nennen sie „Mama“.
„Mama Roswitha“ macht das glücklich. Weil es Relationen verschiebt, sagt sie. „Das Herz wird wichtiger, der Kopf spielt keine große Rolle.“ Sie schaue nicht mehr nach links und rechts, vergleiche sich und ihre Situation nicht mehr mit den Nachbarn. Das Leben der Flüchtlinge sei heute Bezugspunkt. Das mache sie reich. „Ich kenne keine Bomben, kann in Freiheit leben, habe Essen und ein warmes Bett.“ So definiert Roswitha Reckers heute Glück.