Dogmatik-Professor aus Berlin über Reformen in der Kirche und die Rolle des Vatikans

Warum hat der Synodale Weg kaum Chancen, Herr Professor Essen?

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Das Krisenbewusstsein in der katholischen Kirche scheint zu wachsen. Auch Bischöfe dringen mittlerweile auf Veränderungen. Im Interview äußert sich der Dogmatiker Georg Essen aber skeptisch über Chancen von Reformen. Er leitet das Institut für Katholische Theologie an der Humboldt-Universität Berlin.

Herr Professor Essen, zu Ostern haben mehrere Bischöfe wie Georg Bätzing, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, erstarrte Strukturen und mangelnde Veränderungsbereitschaft in der katholischen Kirche kritisiert. Kommt da etwas in Bewegung?

Es deutet, wenn wir die Rhetorik nicht bereits für die Wirklichkeit halten, leider nichts darauf hin, dass die Reformblockaden der vergangenen 40 Jahre aufgelöst werden. Zwar hat der Reformdialog der katholischen Kirche in Deutschland, der Synodale Weg, Themen wie die Sexualmoral, die priesterliche Lebensform, Macht und Gewaltenteilung sowie die Rolle von Frauen in der Kirche auf die Tagesordnung gesetzt. Viele dieser Themen wurden jedoch bereits auf der Würzburger Synode von 1971 bis 1975 behandelt, ohne dass es zu weitreichenden Reformen führte. Vieles wurde in Rom blockiert und auf die lange Bank geschoben.

Warum geben Sie einem zweiten Anlauf wie beim Synodalen Weg so wenig Chancen?

Anders als bei der Würzburger Synode gibt es, soweit sichtbar, keine wirkliche Aufbruchsstimmung wie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, das 1965 endete. Heute ist es geradezu umgekehrt. Die Kirche ist in einer tiefen Glaubwürdigkeitskrise und vom Zerfall ihrer Legitimation bedroht. Der Synodale Weg will die Sisyphusarbeit stemmen, der schleichenden Frustration, Resignation, teils auch Verzweiflung etwas entgegenzusetzen. Ich befürchte, dass die Enttäuschung maßlos sein wird, wenn der Synodale Weg nicht zu den erhofften Erfolgen kommen wird.

Geht es denn nur darum, dass die Stimmung stimmt?

Beim Synodalen Weg gibt es vor allem ein strukturelles Problem: Um frei und offen über alles in der Kirche reden und entscheiden zu können, hat er sich eine Grundordnung gegeben, die außerhalb des geltenden Kirchenrechts angesiedelt ist. Es handelt sich eben um keine Synode. Eine kirchenrechtliche Ordnung wie eine Synode wäre aber die Voraussetzung dafür, dass es eine Chance gibt, die Beschlüsse mit Bindungswirkung auch umzusetzen. Das ist der Preis, den man für dieses Vorgehen wird zahlen müssen: Einerseits das freie, offene, auch streitige Miteinander. Andererseits die offene Frage, wie sich die dort gefassten Beschlüsse einschreiben könnten in die bestehende kirchliche Rechtsordnung. Und nur darum kann es schlussendlich doch gehen! Das Ganze wird dann zu einer merkwürdig bischöflichen Angelegenheit: Es wird von der Bereitschaft jedes einzelnen Ortsbischofs abhängen, ob er bereit sein wird, sich diese Beschlüsse zu eigen zu machen und in seinem Bistum umzusetzen. Und es wird an den Bischöfen hängen, wie energisch sie in „Rom“ aufzutreten bereit sind, um diese dort vorzutragen und sich Gehör zu verschaffen.

Wie schätzen Sie die Reformbereitschaft in der Kirche insgesamt ein?

Päpste haben - man denke etwa an die sogenannten Gregorianischen Reformen im Hochmittelalter oder aber das 19. Jahrhundert - im Laufe der Geschichte mehrfach epochale Wendungen eingeleitet, die die Gestalt der Kirche jeweils tiefgreifend, geradezu revolutionär verändert haben. Da war, recht besehen, mehr Diskontinuität als Kontinuität! Warum also sollte die Kirche angesichts der krisenhaften Umbruchserfahrungen der Gegenwart nicht denselben geisterfüllten Mut zur Freiheit fassen, sich selbst eine Gestalt zu geben, die dem Evangelium gemäß ist und der eigenen Zeit entspricht? Warum also nicht die Freiheit zur Reform, um jene synodalen Strukturen aufzugreifen und weiterzuentwickeln, wie sie im ersten Jahrtausend der Kirchengeschichte ja bestanden haben? Wenn man die gesamte Bandbreite der Traditionen nimmt, ist in der Kirche mehr an Innovation und Veränderung möglich, als so manche Konservativen und Restaurativen unterstellen. Man darf, kurz gefasst, die Tradition halt nicht den falschen Leuten überlassen!

Warum haben es Reformen dann aus Ihrer Sicht so schwer?

Das römische Lehramt hat, namentlich im 19. Jahrhundert, die alleinige Definitionsmacht an sich gezogen, über Schrift und Tradition autoritativ zu befinden. Die Verdienste des jüngst verstorbenen Theologen Hans Küng bestehen unter anderem darin, den Finger in diese offene Wunde der Kirche gelegt zu haben. Spätestens seit Papst Johannes Paul II. glaubt außerdem das kirchliche Lehramt, seine eigene Theologie treiben zu können; der Kontakt zwischen der wissenschaftlichen Universitätstheologie und der Lehramtstheologie ist nahezu abgebrochen. Wir Theologinnen und Theologen führen, wenn wir ehrlich sind, weithin Sonderdebatten, an denen wir uns berauschen und mit denen wir vielleicht auch Leute auf Gemeindeebene begeistern können. Aber das römische Lehramt interessiert das nicht.

Hat das Zweite Vatikanische Konzil nicht die Basis für viele Reformansätze geschaffen?

Mit Blick etwa auf Religionsfreiheit und Menschenrechte hat das Konzil in der Tat neue Wege eingeschlagen. Mit Blick auf die Verfassungsordnung der Kirche halte ich das Konzil aber mehr für ein Problem als für eine Lösung. In seinen Dokumenten hat es zwar einen pastoralen Ton angeschlagen, aber an den entscheidenden Eckpunkten dogmatisch nichts geändert.

Zum Beispiel?

Etwa in der Frage des viel gepriesenen Glaubenssinns aller Getauften als Quelle kirchlicher Erkenntnisse und Entscheidungen. Das Konzil spricht ihn dem Volk Gottes zwar vollmundig zu, lässt ihn aber in vielen wichtigen Themen faktisch völlig unter den Tisch fallen. In den bischofs- und papstzentrierten Entscheidungswelten kommt dieser Glaubenssinn der Gläubigen nicht vor beziehungsweise darf sich allenfalls in der Rollenprosa des Gehorsams äußern. In unserer heutigen Krise hilft uns, was eine bittere Einsicht ist, das Zweite Vatikanische Konzil offenbar weniger weiter, als viele, namentlich aus der sogenannten Konzils- und der auf sie folgenden Generation das hoffen. Vielleicht ist der Synodale Weg ja, so gesehen, tatsächlich so etwas wie ein Generationenprojekt.

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