Susanne Kock über ihre Arbeit im Sozialprojekt

Wie „Marischa“ die Stigmatisierung von Sexarbeiterinnen abbauen will

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Seit zehn Jahren unterstützt die von zwei Studierenden der katholischen Theologie ins Leben gerufene Ehrenamtsinitiative „Marischa“ Prostituierte auf dem Straßenstrich in Münster mit Beratung und einem „heißen Kaffee“. Das Gesundheitsamt der Stadt hat eine Projektstelle eingerichtet, um auch den Sexarbeiterinnen in Bordellen Unterstützung anzubieten. Wie diese Hilfe aussieht, erläutert Sozialberaterin Susanne Kock.

Frau Kock, seit einigen Monaten arbeiten Sie als hauptberufliche Sozialberaterin im Projekt Marischa mit. Ein Schwerpunkt Ihrer Tätigkeit ist die aufsuchende Arbeit in Bordellen und Clubs sowie die Beratung im Gesundheitsamt Münster. Wie stellt sich der Kontakt zu Bordellbetreibern dar?

In aller Regel sind die Betreibenden offen für unsere Angebote und kennen diese bereits seit Langem. Wir machen entweder mit ihnen oder direkt mit den Sexarbeiterinnen Termine für die aufsuchende Arbeit aus, an denen wir möglichst viele antreffen können. Vor Ort werden uns Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, in denen wir ungestört mit den Sexarbeiterinnen sprechen können. Darüber hinaus gibt es Betreibende, die sich selbst mit der Bitte um Termine für STI-Testungen (Geschlechtskrankheiten-Tests) im Gesundheitsamt melden. Viele dieser Kontaktaufnahmen finden jedoch auch direkt mit den Sexarbeiterinnen statt.

Wie verlaufen die Gespräche mit den Sexarbeiterinnen?

Die Gespräche verlaufen, so wie in anderen Feldern des sozialen Sektors, sehr individuell; zeitlich sowie thematisch. Inhaltlich kann es um unterschiedliche Themen gehen: gesundheitliche Beschwerden, familiäre Angelegenheiten, das Leben in Deutschland, die Arbeit. Wichtig sind dabei ein Vertrauensverhältnis und eine offene, nahbare und vertrauliche Atmosphäre. Ein vorurteilsfreier, wertschätzender und authentischer Umgang ist ebenso unverzichtbar. Im Grunde die generellen Prinzipien sozialarbeiterischer Praxis.

Wie können Sie Prostituierte unterstützen?

Uns ist wichtig, dass wir die Adressierten nicht „Prostituierte“ nennen, denn so nennen sie sich selbst nicht. Darauf wollen wir Rücksicht nehmen. Wir halten viele bereits etablierte Angebote vor, um Unterstützung zu gewährleisten. Beispielhaft sind dies kostenlose Testungen auf sexuell übertragbare Erkrankungen, Begleitungen zu Praxen bei gesundheitlichen Beschwerden, aber auch zu Behörden oder anderen Institutionen, je nachdem, um welches Anliegen es geht und wo Unterstützung gewünscht wird. Darüber hinaus unterstützen wir individuell und niedrigschwellig sowie mithilfe eines guten Netzwerks in Notlagen und Krisen, egal welcher Natur. Auch können wir bei Steuerfragen oder Fragen zum Krankenversicherungsschutz unterstützen und weitervermitteln. Wir unterstützen aber auch durch unsere Öffentlichkeitsarbeit, um die Diskriminierung und Stigmatisierung von Sexarbeiterinnen sowie die Tabuisierung der Thematik abzubauen.

Wie stellt sich die Situation der Zwangsprostitution in Münster dar?

Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten, da sie viele andere Themen tangiert und weitere Fragen aufwirft, zum Beispiel: Was verstehen wir alles unter Zwang? Mit Sicherheit wird darunter verstanden, dass ein Mensch durch einen anderen gegen den freien Willen zur Arbeit gezwungen wird. Tritt eine solche Situation auf, so handelt es sich um eine Straftat, um Menschenhandel und eine unzumutbare Situation, in der wir als Projekt aktiv werden. Jedoch erleben wir dies eher selten.

Was wird dann weiter unter Zwang verstanden?

Es können sich andere Fragen anschließen, zum Beispiel, ob nicht auch andere Situationen wie Armut, das Zahlen von Miete, das Versorgen der Kinder oder Alternativlosigkeiten Zwänge darstellen. Hier gehen die gesellschaftlichen Meinungen oft auseinander, sodass viele unterschiedliche Haltungen existieren. Der Begriff und die Wahrnehmungen dazu sind nicht eindeutig geklärt. Was wir jedoch sagen können: Wenn wir mit Sexarbeiterinnen sprechen, wird oft gesagt, dass es „eben eine Arbeit“ ist. Das Wort „Zwang“ taucht dabei so gut wie gar nicht auf. Vielleicht weil er nicht vorliegt, weil bestimmte Umstände hingenommen werden oder weil sie nicht als „Zwang“ verstanden beziehungsweise anders eingeordnet werden.

Welche Rolle spielt Ausstieg aus der Prostitution bei der Beratung?

Seit der Gründung des Projekts Marischa wurden insgesamt vier Frauen bei einem Aus- beziehungsweise Umstieg begleitet und unterstützt. Auch kommt es immer wieder vor, dass nach anderen Tätigkeiten Ausschau gehalten oder sukzessive bereits ein paar Stunden wöchentlich in anderen Bereichen gearbeitet wird, was wir unterstützen. Uns ist dabei wichtig, dass ein Aus- oder Umstieg selbst gewünscht wird. Denn wir machen einen Ausstieg nicht zur Bedingung unserer Arbeit und auch nicht zum finalen Fernziel. Unser Konzept folgt also dem akzeptierenden Ansatz.

Das Projekt Marischa
Marischa leistet bei Menschen im sexuellen Dienstleistungsgewerbe gesundheitliche und soziale Aufklärungsarbeit und erleichtert den Kontakt zu sozialen und medizinischen Institutionen. Marischa wurde 2013 von Studierenden der katholischen Theologie gegründet und besteht seither als fester Arbeitskreis, bei dem Studierende verschiedener Fachrichtungen und andere freiwillig Engagierte mitarbeiten.

Seit 2016 wird das Projekt durch eine hauptamtliche Sozialpädagogin von der Stadt Münster unterstützt, seit Ende 2022 auch durch eine Sozialarbeiterin. Beide sind Ansprechpartnerinnen beim Straßenstrich in einem Gewerbegebiet in Münster und bei der aufsuchenden Arbeit in Bordellen und Clubs.

Über die Entwicklung von Marischa sagt deren Mitgründerin Antonia Koch, die heute als Religionslehrerin im Rheinland arbeitet: „Wir sind dankbar für die breite Unterstützung, die wir erfahren haben, sei es von der Aidshilfe, den Hiltruper Missionsschwestern, von Ärztinnen und Ärzten und schließlich von der Stadt Münster, die unser Projekt auf professionelle Beine gestellt hat.“ Das Diözesankomitee der Katholiken und „Kirche+Leben“ zeichneten Marischa 2014 mit einem Ehrenamtspreis aus. (job)

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