Katholische Kirche wirkte bei „Umerziehung“ von Indigenen mit

215 Kinderleichen: Die düstere Heim-Geschichte von Kanadas Kirche

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Überreste von 215 Kinderleichen wurden auf dem Gelände eines ehemals kirchlichen Kinderheims in Kanada gefunden. "Eine schmerzhafte Erinnerung an dieses dunkle und beschämende Kapitel der Geschichte unseres Landes" sei das, sagt Premierminister Justin Trudeau. Ein Blick zurück.

Was Rosanne Casimir mitzuteilen hatte, erschüttert die Menschen in Kanada noch immer: Die Leiterin der indigenen Gemeinschaft Tk'emlups te Secwepemc informierte die Öffentlichkeit über einen grausigen Fund auf dem Gelände eines früheren Kinderheims nahe der Kleinstadt Kamloops im Westen des Landes.

Bei Radar-Untersuchungen wurden die Überreste von 215 Kinderleichen gefunden; einige waren bei ihrem Tod nicht mal drei Jahre alt. Warum sie starben, ist bislang unbekannt; die Todesfälle wurden offenbar nicht dokumentiert. Experten wollen nun Hintergründe untersuchen. Erste Ergebnisse werden für Mitte Juni erwartet.

 

Kirche und Umerziehung

 

Bekannt ist, dass es sich beim Internat von Kamloops um eines von 139 Umerziehungsheimen für Söhne und Töchter indigener Familien in Kanada handelte. Zwischen den 1830er Jahren und 1998 landeten geschätzt mehr als 150.000 Kinder in solchen Einrichtungen. Premierminister Justin Trudeau nannte den Fund auf Twitter "eine schmerzhafte Erinnerung an dieses dunkle und beschämende Kapitel der Geschichte unseres Landes".

Ein Kapitel, bei dem die katholische Kirche eine wichtige Rolle spielte. Sie betrieb viele dieser Einrichtungen, in denen die Indigenen - oft unter Zwang - in die Welt der Weißen eingegliedert werden sollten. In den benachbarten USA lautete das zynisch anmutende Stichwort dazu "Social Engineering". Kirche und Staat arbeiteten Hand in Hand.

 

Drill und Erniedrigungen

 

Als einer der führenden "Sozialingenieure" vertrat Hauptmann Richard Henry Pratt (1840-1924) die Ansicht, Ureinwohner könnten nur dann einen angemessenen Platz in der Gesellschaft erhalten, wenn sie auf ihre angestammte Lebensweise verzichteten, sich zum Christentum bekehrten und nach euro-amerikanischen Standards erzogen würden. "Töte den Indianer und rette den Mann", lautete Pratts Motto.

Militärischer Drill und Erniedrigungen waren an der Tagesordnung. Die Kinder erhielten englische Namen, durften ihre Eltern nicht mehr sehen und ihre Muttersprache nicht mehr sprechen.

 

Wohl deutlich mehr als 4.000 Todesfälle

 

Trotz staatlicher Förderung gab es gravierende Mängel. "Die Sterblichkeitsrate, insbesondere an Tuberkulose, Masern, Lungenentzündung oder Grippe, war wegen der zugigen Gebäude und des Lebens auf sehr engem Raum relativ hoch", fasst Heike Bungert, Autorin eines Sachbuchs über Indigene in den USA, die Lage an dortigen Schulen und Internaten zusammen.

In Kanada wurde 2008 eine Wahrheits- und Versöhnungskommission eingerichtet, um die Geschichte der Umerziehungsheime aufzuarbeiten. Neben Krankheiten und Unterernährung litten dort untergebrachte Mädchen und Jungen unter Gewalt und Missbrauch. Bislang ermittelten Experten 4.100 Todesfälle; die Dunkelziffer dürfte höher liegen.

 

Bischof: Es gibt keine Worte

 

Das von der katholischen Kirche 1890 in Kamloops eröffnete Internat gehörte zu den größeren Einrichtungen; in den 1950er Jahren waren dort rund 500 Kinder untergebracht. 1969 übernahmen staatliche Behörden die Leitung, 1978 wurde das Heim geschlossen.

Angesichts des Leichenfunds auf dem Gelände sicherte der Bischof von Kamloops, Joseph Nguyen, der indigenen Gemeinschaft und Chief Rosanne Casimir in einem Brief Unterstützung zu. Es gebe keine angemessenen Worte der Trauer, um diese "schreckliche Entdeckung" zu beschreiben.

 

Forscherin: Akten werden zurückgehalten

 

Kritik an der Kirche übt die Juristin Mary Ellen Turpel-Lafond. Immer noch gebe es "massive Probleme" bei der Rekonstruktion der Ereignisse. Das liege auch daran, dass katholische Stellen weiter Akten zurückhielten, so die Direktorin des Geschichtszentrums für die Umerziehungsheime an der Universität von British Columbia in Vancouver.

Massengräber mit Kinderleichen, eine unheilvolle Kooperation zwischen Kirche und Staat bei der "Betreuung" sozial ausgegrenzter Gruppen, Vertuschung - das alles erinnert fatal an die Verbrechen in Mutter-Kind-Heimen für unverheiratete Frauen in Irland. Mit Blick auf die Geschichte der Umerziehungsheime für Indigene bleibt nach Ansicht von Wissenschaftlern wie Manuel Menrath immerhin festzuhalten: Anstatt deren Kultur vollends zu zerstören, trugen sie auch zur Bildung eines neuen "pan-indianischen Bewusstseins" bei.

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