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Ruth Frankental ist beruhigt. „Es gibt keine Vorfälle derzeit. Und wir hoffen, dass es auch so bleibt“, sagt die Vorsitzende der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Münster. „Vor drei Jahren ist einmal ein Schuss auf die jüdische Gemeinde abgegeben worden. Und ab und zu bekommen wir verrückte Briefe, die wir dann an den Staatsschutz weitergeben“, berichtet sie: In Berlin sehe die Situation ganz anders aus. Dort könnten die Kinder nur unter Sicherheitsmaßnahmen die jüdische Schule besuchen. „Wir leben in Münster auf einer Insel der Seligen. Die Stadtgesellschaft steht hinter uns“, zeigt sich die Vorsitzende erleichtert.
Am 9. November gedenken Menschen in ganz Deutschland der Zerstörung der Synagogen und weiterer jüdischer Einrichtungen im Jahr 1938. Der Angriff auf die Juden jährt sich zum 80. Mal. Grund genug, nachzufragen, wie es mit antisemitischen Stimmungen oder Vorfällen heute aussieht. Häufiger wird aus Teilen Deutschlands über Anfeindungen und Übergriffe auf Juden berichtet. Wie sieht es im Bistum Münster aus?
Einschätzungen aus Münster, Recklinghausen und dem Westmünsterland
„Kirche+Leben“ hat dazu die Vorsitzenden der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GCJZ) in Münster, Recklinghausen und dem Westmünsterland gefragt. Zudem geben ein Vertreter der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Münster und die Generalsekretärin der Union progressiver Juden in Deutschland Einschätzungen.
„Hier ist es verhältnismäßig ruhig“, berichtet Gerda Koch vom Vorstand der GCJZ Recklinghausen. „Mir sind keine Vorkommnisse bekannt, die in den Straftatbestand gehen.“ Die Bürger setzten aber auch sogleich Signale, wenn es notwendig sei. Zu Pfingsten habe es eine Kundgebung der AfD auf dem Markt in Recklinghausen gegeben. „Da haben wir als Gegenveranstaltung mit dem Bündnis für Toleranz und Zivilcourage und anderen Engagierten ein friedlich-fröhliches Fest organisiert“, erinnert sich Koch. „Es sind viele Menschen gekommen. Die AfD-Kundgebung wurde kaum beachtet.“
Vorfälle in der Nachbarschaft
Allerdings habe es in der wenige Kilometer entfernten Nachbarstadt Gelsenkirchen Vorfälle gegeben. Dort ist im Mai die Gedenktafel an einen jüdischen Rechtsanwalt entfernt und im August das Fenster des jüdischen Gemeindezentrums mit Steinen eingeworfen worden. „Das ist alles nicht so schlimm wie in Berlin“, gibt Koch zu bedenken. Dennoch habe es Wirkung – auch in Recklinghausen.
„In Nordrhein-Westfalen ist Dortmund ein Hotspot der Neonazis“, sagt Heiko Klare von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Münster. „Dort wohnen sie, dort organisieren sie ihre Aktionen, von dort aus planen sie Aktionen im Umfeld.“ Im Kreis Recklinghausen selbst gebe es kleine Gruppen und den Kreisverband ‘Die Rechte‘. Die Szene sei untereinander in sozialen Netzwerken und im Internet gut vernetzt und sehr aktiv.
Rechtsafine Jugendgruppen und Cliquen
Im ländlichen Raum des Münsterlandes gibt es nach Klare zudem Cliquen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, „die ansprechbar für die rechte Welt sind“. Sie seien schwer wahrnehmbar, weil in der Öffentlichkeit kaum präsent. „Sie treffen sich erwa an Bushaltestellen, zeigen den Hitlergruß und schmieren NS-Symbole und Hakenkreuze an Wände.“
Zudem wisse er aus Meldungen von Jugendhilfeeinrichtungen, „dass es dort Wohngruppen gibt, die Anschluss an rechtsafine Cliquen haben“. Die Träger der Einrichtungen seien unterschiedlich. Es gehörten auch kirchliche Einrichtungen dazu, sagt er. Heiko Klare betont, „dass der Antisemitismus aber auch jenseits rechter Gruppen Realität ist“. Seit den Achtzigerjahren belegten wissenschaftliche Einstellungs-Untersuchungen, dass antisemitische Versatzstücke wie ‚Die Juden haben viel Macht in Deutschland‘ oder ‚Die Juden raffen Geld‘ in der breiten Bevölkerung verankert sind.
Berater: Schaut auch auf die gesellschaftliche Mitte!
Der Berater mahnt deswegen, nicht allein auf den rechten Rand zu schauen, sondern auch auf die gesellschaftliche Mitte. An die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus im Regierungsbezirk Münster können sich alle wenden, die sich mit Antisemitismus und Rechtsextremismus auseinandersetzen wollen oder müssen, sagt er.
Georg Ketteler von der GCJZ Westmünsterland beruhigt für seinen Bereich. „Antisemitische Aktionen sind mir nicht bekannt.“ Im Gegenteil würden die Menschen in Coesfeld, Bocholt, Epe, Gronau, Vreden und anderen Städten und Gemeinden des Westmünsterlandes mit der Kultur des Erinnerns gegensteuern. „In Epe gibt es einen Initiativ-Kreis, der die alte Synagoge restaurieren und zu einem Gedenkort gestalten will“, nennt er ein Beispiel. In Bocholt werde im Stadtmuseum mit Ausstellungen an die Verbrechen gegen die Juden erinnert.
Rabbinerin: Antisemitismus ist aktuell
„Im Westmünsterland leben heute nur noch wenige jüdische Familien“, sagt Ketteler. „Sie sind entweder ausgewandert oder den Pogromen zum Opfer gefallen. Wir haben hier auch keinen Zuzug von jüdischen Mitbürgern aus dem Osten wie in größeren Städten.“ Die Erinnerungskultur an den Holocaust dürfe nicht statisch sein. Es gehe vielmehr darum, „aus der Erinnerung heraus das Unrecht im Gedächtnis zu erhalten und durch Aufklärung dazu beizutragen, dass nie wieder so etwas passiert“, sagt er.
Die Rabbinerin Natalia Verzhbovska antwortet auf die Anfrage von „Kirche+Leben“, dass der Antisemitismus „leider sehr aktuell ist“. Verzhbovska steht den progressiven jüdischen Gemeinden in Unna, Oberhausen und Köln vor. Sie verweist für weitere Informationen auf Irith Michelsohn. Sie ist Geschäftsführerin des Landesverbandes progressiver jüdischer Gemeinden in NRW und Generalsekretärin der Union progressiver Juden in Deutschland – der Parallelorganisation zum „Zentralrat der Juden in Deutschland“.
Wankelmut der Demokratie
„Im Augenblick ist es für uns sehr friedlich. Trotzdem sind die Gemeindemitglieder ängstlicher geworden, sich in der Öffentlichkeit als Juden zu outen“, sagt Michelsohn. Viele Zugezogene aus Osteuropa hätten zudem eine doppelte Sorge: „Probleme mit der deutschen Sprache und Jude sein – das verängstigt.“ Die Gemeinde habe Vorkehrungen getroffen. „Wir bitten unsere Mitglieder, nicht mit der Kippa oder einer Kappe mit Davidstern auf die Straße zu gehen. Wir fühlen uns aber durch das Land NRW gut geschützt.“ Das Innenministerium finanziere bei Gebäuden Schleusen, Kameras, Sicherheitsfenster oder Einfriedungen zu 100 Prozent. „In Niedersachsen ist das nicht der Fall“, sagt sie.
Noch etwas ist Michelsohn wichtig. „In Unna haben wir unsere Gemeinde in einer ehemaligen evangelischen Kirche.“ Da könne man womöglich Sorgen wegen der Nähe zum Flüchtlingslager Unna-Massen haben, in dem etwa 700 Syrier lebten. „Aber es ist nie etwas passiert. Die Flüchtlinge sind nicht die Bösen.“ Sorge mache ihr vielmehr der Vormarsch der deutschen Rechten und der AfD. „Die Demokratie ist sehr wankelmütig geworden“, sagt Michelsohn.