Frank Vormweg zur Barmherzigkeit in der Kirche

Auslegung der Lesungen vom fünften Sonntag der Fastenzeit / Lesejahr C

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Welchen Stellenwert hat die Lebenswirklichkeit in der kirchlichen Lehre? Diese Frage war sowohl in der jungen als auch in der heutigen Kirche virulent. Muss Barmherzigkeit immer neu eingefordert werden, fragt sich Frank Vormweg und legt die Lesungen dieses Sonntags aus.

Im Jahr 2016 erschien das nach­synodale Schreiben „Amoris Lae­titia“ von Papst Franziskus zur Ehe- und Familienpastoral. Eine wesentliche Aussage kann so zusammengefasst werden: Die grundsätzliche Lehre der Kirche sei beizubehalten, aber bei der Anwendung der Moral sei die Lebenswirklichkeit der Menschen stärker zu beachten. Konkret ging es um die Diskussion, ob Wiederverheiratete zu den Sakramenten zugelassen werden können oder nicht.

Dahinter die Frage: Hat die Kirche Respekt vor Lebens- und Gewissensentscheidungen der Menschen? Papst Franziskus kritisiert immer wieder einen zu starken Rigorismus, der da wächst, wo in der Kirche die Lebenswirklichkeit aus dem Blick gerät. Rigorismus entleert die lebensbejahende biblische Botschaft vom gütigen Gott.

Vergebung oder Ausschluss?

Die Lesungen vom fünften Sonntag der Fastenzeit (Lesejahr C) zum Hören finden Sie hier.

Dieser Streit um Gesetz und Barmherzigkeit hat schon die junge christliche Kirche im zweiten Jahrhundert in harte Auseinandersetzungen geführt. Für das Verständnis des Evangeliums „Jesus und die Ehebrecherin“ von diesem Sonntag ist es wichtig zu wissen, dass es sich um einen späten Einschub in das Johannes-Evangelium handelt. Es gab in der jungen Kirche Streit zwischen Rigoristen und Versöhnern. Wie konnte es sein, dass sich Menschen taufen ließen, dann aber doch wieder schwere Sünden begehen? Sollte Christen die Vergebung schwerer Sünden ermöglicht werden können oder sollten sie für immer aus der Kirche ausgeschlossen werden?

Dies war ein unlösbares Dilemma. So wie in der Erzählung von Jesus und der Ehebrecherin, die idealtypisch Jesu Barmherzigkeit und Liebe zu den Sündern darstellt. Jesus würde sicherlich für eine Aussetzung der Strafe eintreten, so die berechnende Falle der religiösen Entscheidungsträger der Zeit. Würde er sich in seiner Barmherzigkeit gegen eine Bestrafung aussprechen, verstieße er gegen das Gesetz des Mose, welches die Todesstrafe bei Ehebruch vorsah. Würde er der Bestrafung zustimmen, verstieße er gegen ein Gesetz der römischen Besatzungsmacht, die sich die Vollstreckung von Todesurteilen vorbehielt. Egal, wie Jesus sich entscheiden würde, barmherzig oder gesetzestreu – immer wäre es falsch.

Der glaubende Blick nach vorn

Frank Vormweg ist Hauptabteilungsleiter im Bischöflichen Generalvikariat
Frank Vormweg ist Hauptabteilungsleiter im Bischöflichen Generalvikariat

Der Ausweg aus diesem Dilemma ist für Jesus ein Umdenken. Gesetz und Lebenswirklichkeit können keine Widersprüche sein – dieses Umdenken fordert Jesus von den Schriftgelehrten. Zur Lebenswirklichkeit gehört es, dass niemand ohne Schuld ist – und den ersten Stein werfen könnte. Von der Ehebrecherin fordert Jesus Selbstverantwortung gegenüber dem Gesetz: Handle in der Zukunft anders! Die Lösung ist ein Blick nach vorn in die unbegrenzte Möglichkeit, die Gott im Glauben eröffnet.

Der glaubende Blick nach vorn ist zukunftsweisender als das Verharren im Gesetzesrigorismus: Das schreibt auch Paulus aus dem Gefängnis in Ephesus an seine Gemeinde in Philippi und warnt so vor zerstörerischen innergemeindlichen Kräften. Was ihm früher wichtig war, seine Gesetzestreue, hatte an Tragkraft verloren, theologisch wie persönlich. Er musste umdenken, einen Perspektivwechsel vornehmen. Das tat er aus seiner Glaubenserfahrung des auferstandenen Christus.

Auch der alttestamentliche Text des Propheten Jesaja spricht in das trostlose Exil der Israeliten eine Hoffnungsbotschaft: „Seht her, nun mache ich etwas Neues.“ Ein politischer Umbruch eröffnete damals den Israeliten neue Perspektiven. Das konnten sie als Gottes Wirken in der Geschichte verstehen.

Ähnlichkeit mit heute

Im Streit der jungen Kirche im dritten Jahrhundert setzte sich eine christliche Grundhaltung durch: Versöhnen vor Rigorismus, weil Gott den Menschen zuerst Gnade und Gerechtigkeit geschenkt hat! Diese Grundhaltung wurde dann in der Perikope ins Johannes-Evangelium aufgenommen. Durchgesetzt hat sich die Einsicht, dass die nach vorne gerichtete Verantwortung, entstandenen Schaden wieder gutzumachen, für Mensch und Gesellschaft wichtiger ist als die Bestrafung der Schuld. So endet die Textstelle: Jesus spricht die Frau direkt an, schenkt ihr Respekt und gibt ihr Selbstverantwortung für ihr Handeln zurück.

Die Ähnlichkeit der Auseinandersetzungen in der jungen und der heutigen Kirche machen nachdenklich. Warum muss Barmherzigkeit immer wieder neu eingefordert werden? Warum müssen Menschen ausgerechnet in der Kirche Respekt vor ihren persönlichen Rechten einfordern? Umdenken – mit Ausrufezeichen – das ist die Vorbereitung am fünften Fastensonntag auf die Osterbotschaft.

Sämtliche Texte der Lesungen vom fünften Sonntag der Fastenzeit (Lesejahr C) finden Sie hier.

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