Marianne Heimbach-Steins im Interview mit „Kirche-und-Leben.de“

Bahnstreik und Bauernprotest: Ethikerin sagt, wo die Grenzen liegen

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Bahnstreik und Bauernprotest beeinträchtigen derzeit den Alltag in Deutschland. Wie sind die Aktionen zu bewerten? Wo wären Grenzen überschritten? Wie lässt sich verhindern, dass die Aktionen von politischen Strömungen gekapert werden? „Kirche-und-Leben.de“ hat die Sozialethikerin Marianne Heimbach-Steins gefragt. Sie ist Professorin für Christliche Sozialwissenschaften an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.

Frau Heimbach-Steins, die Bauern rufen angesichts geplanter Kürzungen bei Subventionen für Agrardiesel eine ganze Protestwoche aus, die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) streikt erstmals im aktuellen Tarifstreit mehrere Tage. Verändert sich gerade die Protestkultur in Deutschland?

Das ist schwer zu beurteilen. Aber dass wir zwei große Proteste parallel erleben, ist ein Zeichen dafür, dass der Druck steigt. Dass es eine Fülle von Problemen und große Herausforderungen gibt, denen sich die Gesellschaft und die Politik stellen müssen. Dieser Druck entlädt sich auf eine zulässige und wichtige Art im öffentlichen Protest. Demonstrations- und Versammlungsfreiheit sind Grundrechte, die Anerkennung und Schutz verdienen.

Unser Nachbarland Frankreich ist mit langen Streiks vertrauter. Bekommen wir französische Verhältnisse?

Das sehe ich so bisher nicht. In beiden Ländern gibt es unterschiedliche Traditionen, vielleicht wirkt in Frankreich die Revolutions-Erzählung bis heute nach. In der Bundesrepublik gibt es historisch eher eine Konsens-Kultur.

Trecker-Demos und Straßenblockaden durch Bauern sind zeitlich begrenzt, der Lokführer-Streik dagegen trifft anhaltend Millionen Menschen und löst erheblichen gesamtwirtschaftlichen Schaden aus. Wo sehen Sie eine Grenze von Streiks und Protesten erreicht?

Das ist nicht einfach zu sagen. Wichtig zur Beurteilung ist, mit welchen Mitteln der Protest artikuliert wird, und, um welche Anliegen es geht. Demos und Streiks sind legitime Mittel. Und sowohl bei den Bauernprotesten als auch beim Lokführer-Streik geht es um Fragen, die nicht nur Gruppeninteressen betreffen, sondern das Gemeinwohl: Bei den Bauern um die Versorgung mit Lebensmitteln. Bei den Lokführern darum, dass das öffentliche Transportsystem funktioniert, das ja – Stichwort Klimawandel und „Verkehrswende“ – künftig möglichst noch mehr Menschen nutzen sollen als heute. Da ist es berechtigt, um gute Arbeitsbedingungen und eine angemessene Entlohnung für die Lokführer zu kämpfen. Das werden sehr viele Menschen, die die Folgen des Streiks zu spüren bekommen, nachvollziehen können.

Die Grenze von unbequemen Maßnahmen ist erreicht, wenn Umfang und Art der Proteste die Menschen auf breiter Front gegen sich aufbringen. Wenn die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft beeinträchtigt ist, werden Proteste kontraproduktiv. Es ist nichts dagegen zu sagen, berechtigte Anliegen mit Streiks durchsetzen zu wollen. Gewerkschafter und Arbeitgeber müssen aber eine gemeinwohlschädliche Eskalation vermeiden. Es darf auch nicht darum gehen, sich profilieren zu wollen.

Vergangene Woche haben protestierende Bauern Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) daran gehindert, eine Fähre zu verlassen, die Stimmung war aggressiv. In Dresden hat sich am Montag eine rechtsextreme Kleinstpartei unter demonstrierende Bauern gemischt. Wie können protestierende Gruppen sicherstellen, dass ihre Aktionen Grenzen respektieren und nicht gekapert werden?

Die Bereitschaft zur Polarisierung steigt in Teilen der Gesellschaft. Umso wichtiger ist es, dass Protestierende ihre Anliegen präzise vortragen. Das hilft zu verhindern, dass Aktionen zu allgemeiner Stimmungsmache umfunktioniert werden. Dass bei öffentlichen Demonstrationen Menschen mit anderen Anliegen mitlaufen, wird man nicht immer vermeiden können. Wichtig ist, dass Veranstaltende klare Grenzen artikulieren, sich von Versuchen ideologischer Vereinnahmung distanzieren und gegen entsprechende Symbole und Botschaften vorgehen. Dass im Fall Habeck Grenzen gerissen wurden, scheint mir eindeutig.

Wo sehen Sie die Rolle engagierter Christen in den Auseinandersetzungen? Was können sie in den protestierenden Gruppen tun?

Wer ein christliches Wertefundament hat, sollte vor allem darauf achten, wie Auseinandersetzungen geführt werden. Da geht es um Respekt, um den Umgang mit Sprache und darum, dass sich alle Beteiligten jederzeit in die Augen sehen können. Es geht um Versachlichung und um Geduld beim Bohren „dicker Bretter“. Das heißt nicht, dass nicht auch eine scharfe Auseinandersetzung nötig sein kann. Positionen müssen deutlich dargestellt werden. Dabei dürfen aber menschliche Achtung und das Gemeinwohl nicht aus dem Auge geraten. Es geht darum, wirtschaftliche, soziale und auch ökologische Aspekte – etwa im Fall der Bauern – abzuwägen. Da liefert die christliche Soziallehre einige Anhaltspunkte und Argumente.

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