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Demokratie ist auf Vertrauen angewiesen. Krisendiskurse und Untergangsgesänge dürften nicht zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden. „Wenn sie maßlos werden, befeuern sie das grassierende Misstrauen und Verschwörungstheorien“, sagte Hedwig Richter, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte, bei den „Domgedanken 2021“ in Münster.
„Vielleicht sollten wir immer mal wieder zur Gelassenheit mahnen und darauf verweisen, was die Menschen mit der liberalen Demokratie erreicht haben und was für ein Glück es gerade für die Deutschen ist, in einer freiheitlichen Demokratie leben zu dürfen“, betonte die Expertin der Universität der Bundeswehr in München.
In ihrem Vortrag „Demokratie – eine Fiktion? Warum sich eine Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte lohnt“ warf Richter einen Blick in die Vergangenheit, denn die Demokratie, in der es im Wesentlichen um die Menschenwürde gehe, um Gleichheit gepaart mit Freiheit, sei voller Widersprüche.
Demokratien grundlegend auf Mehrheiten angewiesen
Die Geschichte der Demokratie sei eine Geschichte der Inklusionen. Während in der frühen Neuzeit die Politik an Höfen und in den Städten stattgefunden habe und die verarmte ländliche Bevölkerung außen vor geblieben sei, wurden im Lauf der Geschichte immer mehr Menschen in die Gesellschaft einbezogen und politisch als Gleiche behandelt. Diese „Inklusionsrevolutionen“ hätten sich in der Moderne vollzogen.
Die Demokratie sei grundlegend auf Mehrheiten angewiesen und gründe auf der Bevölkerung. Sie sei häufig von den unteren Schichten erkämpft und eingefordert worden. „Demokratie ist wie keine andere Staatsform, diejenige, die inkludiert – politisch, aber eben auch sozial“, so die Historikerin. Deshalb sei die soziale Gerechtigkeit und der Wohlstand von Bedeutung.
Sozialstaat stützt Demokratie
Das Lebensniveau der Menschen musste einem Mindeststandard entsprechen. Richter sieht in der Geschichte einige Hinweise darauf, dass die entscheidende Frage dabei nicht die nach der sozialen Ungleichheit sei, sondern vielmehr die nach dem Wohlstandsgrad der unteren Schichten. „In jedem Fall bedarf es eines potenten Sozialstaates, um möglichst alle in der Bevölkerung zu inkludieren“, erklärte die Referentin.
Ein weiterer wichtiger Aspekt für die Entwicklung von Demokratie war die Nation. Sie bot ein neues Selbstverständnis, verlieh der abstrakten Idee der Gleichheit Gestalt und Gefühl. Anhand von politischen Wahlen ließe sich gut beobachten, wie sich das Konzept der Nation entwickelt habe.
Nation bildet „Wir-Bewusstsein“ aus
„Wahlen sind bis heute ein extrem starker Ausdruck der politischen Egalität und der Volksherrschaft. Sie plausibilisieren die Idee von Gleichheit und von Selbstregierung“, erklärte Richter. Nach wie vor sei die Nation ein wichtiger Motor für Solidarität und ein minimales „Wir-Bewusstsein“, das sich für Demokratien als unabdingbar erweise. „Die liberale Demokratie, die sich aus dieser Geschichte herausgebildet hat, erscheint mir als die beste Form, die wir haben, um die Würde für alle zu ermöglichen“, ist Richter überzeugt.
Livestream zu Gauck und Asselborn
Am 1. September referiert der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck über „Demokratie in Frage? Anmerkungen zur Diagnose und Therapie“. Zum Finale der „Domgedanken 2021“ spricht am 8. September der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn über „Demokratie – das Fundament Europas. Anmerkungen zur Kraft freiheitlicher Staatsformen“. Beide Veranstaltungen starten um 18.30 Uhr und sind bereits ausgebucht. Einen Livestream finden Sie auf www.kirche-und-leben.de.