Gast-Kommentar von Matthias Remenyi zum Unabhängigkeitstag der Ukraine

Krieg in der Ukraine: Eine Hoffnung will ich lernen, die für alle hofft

Anzeige

Am 24. Februar ließ Präsident Wladimir Putin russische Truppen in die Ukraine einmarschieren. Ein halbes Jahr später tritt - zumindest bei uns - eine gewisse Gewöhnung ein, wir diskutieren - völlig zu Recht- über Gaspreise. Doch wir sind viel grundsätzlicher angefragt, meint Matthias Remenyi aus eigener Erfahrung mit Geflüchteten aus der Ukraine. Ein Gast-Kommentar an deren Unabhängigkeitstag.

Heute ist der 24. August, der Unabhängigkeitstag der Ukraine. Am 24. August 1991 erlangte die Ukraine die Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Zugleich dauert der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine heute auf den Tag genau ein halbes Jahr an. Am 24. Februar 2022 gab Putin den Befehl zur Invasion, überschritt die russische Armee (mit Blick auf die Krim 2014 muss man sagen: erneut) die Grenze zur Ukraine.

Die Ukrainerinnen und Ukrainer begehen diesen Tag wohl mit überaus gemischten Gefühlen. Seit einem halben Jahr schon müssen sie um ihre Unabhängigkeit kämpfen und bezahlen einen hohen Preis dafür. Zehntausende sind tot, Millionen auf der Flucht. Präsident Selenskyj ruft seine Landsleute zum Zusammenhalt und Widerstand auf – und warnt zugleich vor besonders schweren russischen Angriffen, die am heutigen Unabhängigkeitstag zu befürchten sind.

Gaspreise und Menschen auf der Flucht

Der Krieg scheint allmählich festzufrieren, sich zu einem Stellungskrieg zu entwickeln. Die Frontlinien bewegen sich nur langsam. Wenn nicht alles täuscht, stellt sich bei uns so etwas wie eine gesellschaftliche Ermüdung, eine allmähliche Gewöhnung an das Unfassbare ein.

Wir diskutieren – zu Recht! – die Entwicklung der Gaspreise und fragen, welche Wirtschaft eher einknicken wird: die russische oder die europäische. Aber wir drohen darüber das tagtägliche Leiden und Sterben der Menschen im Kriegsgebiet und auf der Flucht zu vergessen. Nicht aus bösem Willen, sondern einfach, weil die Dinge halt so sind, wie sie sind. Das Leben geht weiter, muss weitergehen, und Kriege gibt es viele auf der Welt.

Wenn der Krieg ein Gesicht bekommt

Wenn der Krieg ein Gesicht bekommt, wenn sich die Nachrichten plötzlich mit Namen verbinden, dann geht das nicht mehr. Für fast vier Monate hat eine junge Ukrainerin mit ihren beiden Söhnen bei uns gewohnt. Die drei hatten ihr eigenes Zimmer und ein eigenes Bad, Wohnzimmer und Küche haben wir geteilt. Es war eine Grenzerfahrung – nicht mehr zu viert, sondern eben zu siebt im Haus. Kindergeschrei, Spielzeug und Fettflecken allenthalben. Gepflogenheiten und Erziehungsstile prallen aufeinander, liebgewordene Routinen werden über den Haufen geworfen.

Meine Frau wird über Nacht zur Sozialarbeiterin und müht sich mit den Behörden. Mich beginnt ein Einjähriger, dessen Vater es bei Strafe verboten ist, das Land zu verlassen, plötzlich zu umarmen – und ich bekomme jedes Mal einen Klos im Hals. Trotzdem ärgere ich mich, wenn er meine Bücher und die CDs aus dem Regal zieht. Der Sechsjährige winkt mir zu, wenn ich zur Arbeit gehe, und wenn ich wiederkomme, will er mit mir Brennholz für den Winter aufschichten. Trotzdem nerven mich russische Trickfilme auf Netflix in meinem Wohnzimmer enorm.

Eine Grenzerfahrung

Der Autor
Matthias Remenyi ist Professor für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Würzburg.

Nun sind sie seit einigen Tagen in ihrer eigenen kleinen Wohnung in der Stadt, wenn auch nur zur Zwischenmiete für ein knappes Jahr. Was kommt, weiß niemand. Auf dem freien Wohnungsmarkt in Würzburg haben sie keine Chance. Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen: Ich bin froh, dass sie gegangen sind und wir wieder für uns sein können. Es war eine Grenzerfahrung.

Aber ich bin auch dankbar für diese vier Monate. Nicht nur, weil ich eine Lektion darüber erteilt bekam, was wirklich wichtig ist im Leben (kleiner Hinweis: der Job ist es nicht). Sondern auch, weil ich seither mit anderen Augen auf die Nachrichten schaue. Denn ich weiß nun: Die Bomben auf Saporischschja, die gelten eigentlich auch Oksana und ihren beiden Jungs. Und in Gedanken bin ich bei den Menschen dort und bei ihrem Mann, den ich gar nicht kenne.

Kriege gibt es viele

Die Dinge sind, wie sie sind, und Kriege gibt es viele. Was können wir schon tun? Ich will mich auch weiterhin gegen die Gewöhnung an das Ungeheuerliche sperren, will solidarisch bleiben – in Wort und im Tun, aber in Anerkenntnis meiner und meines Umfelds Grenzen. Das freie und klare, das unverklausulierte und ungeschützte Sprechen will ich einüben; ein Sprechen, das das Unrecht beim Namen nennt, aber sich Vereinfachung, Polemik, Schwarz-Weiß-Malerei und Verteufelung der anderen enthält.

Die Arbeit an der Angst will ich einüben; nicht, dass ich fortan keine Angst mehr habe, aber dass zumindest die Angst nicht mehr mich hat (nach einem grandiosen Wort von Wolf Biermann). Immer mehr wird mir bewusst, wie wenig selbstverständlich ein demokratischer Rechtsstaat und eine freie Presse sind – und wie wichtig es ist, sich hier bei uns Nationalismen und Fundamentalismen entgegenzustellen. Ähnliches wäre auch für meine Kirche zu sagen, die der Kyrills in vielem ideologisch näher ist, als ihr lieb sein kann.

Hoffnung wider alle Hoffnung

Schließlich – man verzeihe mir mein Pathos, aber es ist immerhin Unabhängigkeitstag – will ich mich angesichts der alltäglichen Grausamkeiten immer wieder aufs Neue jener Hoffnung wider alle Hoffnung erinnern, die den Christinnen und Christen gegeben ist, um die ich täglich ringen muss und die dennoch nichts zuschanden kommen lassen will; eine Hoffnung, die für alle hofft – für Russen wie für Ukrainer, für Opfer wie für Täter, weil sie auf einen Gott hofft, der Gerechtigkeit zu schaffen weiß, ohne auch nur einen einzigen Menschen verloren zu geben.

In unseren Gast-Kommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

Anzeige