Schauspielerin aus Bochum/Tel Aviv über jüdische Identität heute

Nadia Migdal: Jüdische Kultur ist mehr als Kippa und Klarinette

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„Auf die nächsten 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland!“ Die Gäste einer Theaterpremiere im Jüdischen Museum Westfalen in Dorsten erheben ihre mit Wein oder Traubensaft gefüllten Gläser und wiederholen den Wunsch, den die Schauspielerin Nadia Migdal und der israelische Schauspieler Uri Fahndrich anstimmen. Der Trinkspruch zum Abschluss der Theaterpremiere über Fragen, was jüdische Kultur ausmacht, steht im Zusammenhang mit dem diesjährigen Festjahr „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“. „Kirche-und-Leben.de“ sprach mit der aus dem Ruhrgebiet stammenden Nadia Migdal über das Selbstverständnis jüdischer Kultur heute.

Frau Migdal, im Jüdischen Museum Westfalen in Dorsten haben Sie jüngst Ihr Theaterstück „Let´s meet for a Kneidelsoup“ (Lasst uns zu einer Kneidelsuppe treffen) aufgeführt. Sie thematisieren darin die Frage: Was ist eigentlich nicht-religiöse jüdische Kultur? Wie sind Sie auf dieses Theaterstück gekommen?

Ich habe bereits in meinem letzten festen Theater-Engagement in Trier mit diesem Format experimentiert. Damals habe ich mich intensiv mit der Geschichte meiner Großeltern, die beide die Shoah überlebt haben, beschäftigt. Als ich mit meinem jetzigen Partner Uri Fahndrich, der in Israel aufgewachsen ist, über kulturelle Unterschiede sprach, interessierte uns plötzlich viel mehr die Suche nach Gemeinsamkeiten, die jenseits von Religion und Nationalität so etwas wie eine „jüdische Zugehörigkeit“ ausmachen. Daraus entstand dann der Wunsch, dieses in einem Theaterabend zu thematisieren.

Was hat es mit der Kneidelsuppe in diesem Stück auf sich?

Die einzige Gemeinsamkeit, auf die wir uns sofort einigen konnten, war die Kneidelsuppe, eine Gemüsesuppe mit Matzeknödel, die unsere Großmütter gekocht haben. Und die für uns der Inbegriff der ashkenasischen jüdischen Kultur ist.

Was verbinden Sie mit dem Begriff jüdische Kultur?

Da ist einmal das Essen, sowohl das Essen an sich als auch die Rituale, die es umgeben. Die jiddische Sprache, die sowohl in das Hebräische als auch in das Deutsche eingeflossen ist. Der Humor, der jüdische Witz. Und nicht zuletzt die Musik.

Wie religiös muss jüdische Kultur sein?

Für mich als säkularen Menschen muss sie das gar nicht. Allerdings hat die Religion beziehungsweise die Religionsausübung dazu beigetragen, dass es heute noch jüdische Kultur gibt. Welche kulturellen oder religiösen Aspekte man kultivieren und pflegen will, muss jeder Mensch für sich entscheiden, und dies variiert möglicherweise auch in unterschiedlichen Phasen des Lebens.

Wie würden Sie die jüdische Kultur heute in Deutschland beschreiben?

Das ist ein sehr weites Feld! Es gibt ja eine Wahrnehmung aus nicht-jüdischer deutscher Perspektive, die wenig mit der gelebten Realität von Jüdinnen und Juden in Deutschland zu tun hat. Was nicht-jüdische Menschen als jüdische Kultur empfinden, spielt sich ebenfalls meist in einem recht engen Rahmen ab: Kippa, Klarinette, erinnerungskulturelle Veranstaltungen. Es gibt mittlerweile aber eine sehr diverse, heterogene jüdische Gesellschaft in Deutschland, die sich jenseits von bekannten Stereotypen bewegt und eine große Bereicherung darstellt. Auch israelische Künstlerinnen und Künstler prägen die jüdische Kultur in Deutschland mit, auch durch das Selbstverständnis, mit dem sie aufgewachsen sind, welches sich stark von dem eines in Deutschland aufgewachsenen jüdischen Menschen unterscheidet.

Als Schauspielerin waren Sie zuletzt in einem Film zu sehen, der über eine aus Aserbaidschan stammende armenische Jüdin handelt, die in Köln landet. Inwieweit sind für Sie solche Biografien interessant?

Und dann nach Israel geht! Ich habe in diesem Film ja nur einen ganz kleinen Part, aber die Geschichte der Protagonistin ist eine, mit der ich mit identifizieren kann. Ich bin sehr oft umgezogen, allerdings erst als Erwachsene, und fühle mich meist auf der Suche nach irgendeinem Aspekt, der mich ausmacht und den ich hoffe zu entdecken, indem ich mich in neuen Ländern, Städten, Umfeldern bewege.

In der Serie „Unorthodox“ bei Netflix wird jüdisches Leben vorgestellt und auch karikiert. Was halten Sie davon?

„Le’ Chaim!“ ist ein beliebter jüdischer Trinkspruch, der so viel heißt wie „Auf das Leben!“ In ihm steckt vieles: etwas Bejahendes, Fröhliches und gleichzeitig etwas Melancholisches. Die Tora lehrt, das Leben über den Tod zu stellen. Lesen kann man den Spruch am Eingang des Jüdischen Museums Westfalen in Dorsten. | Foto: Johannes Bernard
„Le’ Chaim!“ ist ein beliebter jüdischer Trinkspruch, der so viel heißt wie „Auf das Leben!“ In ihm steckt vieles: etwas Bejahendes, Fröhliches und gleichzeitig etwas Melancholisches. Die Tora lehrt, das Leben über den Tod zu stellen. Lesen kann man den Spruch am Eingang des Jüdischen Museums Westfalen in Dorsten. | Foto: Johannes Bernard

Naja, die Art der Darstellung der extrem hippen und woken Studentinnen und Studenten in Berlin und die extrem altmodische und unterdrückende Gesellschaft der Orthodoxen als Gegensatz ist in meinen Augen zu stark vereinfacht und wird der Komplexität der Realität nicht gerecht. Ich habe aber grundsätzlich kein Problem mit der Darstellung von orthodox-jüdischem Leben in Serien oder Filmen. Es ist aber schon etwas – wie soll ich sagen – sehr mitteleuropäisches, jüdisches Leben, jüdische Menschen immer im Rahmen der Religion darzustellen. Vielleicht weil es einfacher ist, diese Charaktere als „jüdisch“ darzustellen, indem man ihnen Kippas oder Hüte oder Perücken aufsetzt, wobei Frauen ja sowieso weniger sichtbar sind, wenn explizit jüdische Menschen im Fernsehen dargestellt werden.

Welche Klischees müssen bedient werden?

Von mir? Keine!

Auf welche Klischees sollte man verzichten?

Wenn ich gemeint bin: alle und keine. Sie bewusst benutzen, brechen, ausstellen, oder auch Spaß damit haben. Es kommt ja sehr darauf an, wer das „man“ ist. Und in welchem Kontext die Klischees auf den Tisch kommen.

Sie stammen aus dem Ruhrgebiet und leben heute abwechselnd in Bochum und Tel Aviv. Was verbindet Sie mit dem Leben im Ruhrpott, was mit dem Leben in Israel?

Im Ruhrgebiet bin ich aufgewachsen, verbinde ganz viele initiale Erfahrungen mit Orten in und rund um Bochum. Hier hat ein großer Teil meiner Sozialisierung stattgefunden, hier habe ich das Theater, die Schauspielerei entdeckt. Aber hier kam auch ein Teil meiner Identität nicht so sehr zum Tragen beziehungsweise einfach nicht so vor. Und der hat eventuell dann wieder mehr mit Israel zu tun, indem viele Menschen in meinem Umfeld ähnliche Familiengeschichten haben von Vertreibung und der Shoah. Plötzlich ist meine gar nicht mehr exotisch. Nach Tel Aviv zu ziehen, war aber eine Intuition und ein Bauchgefühl, dem ich nachgegangen bin. Ich habe dort ein weiteres Zuhause gefunden, trotz Spannungen und mancher Widrigkeiten.

Wenn es um die Suche nach Identität geht: Muss man sich heute überhaupt die Frage stellen: Bin ich ein Christ? Ein Muslim? Ein Jude? Ein Atheist?

Muss man nicht. Aber es ist oft schwer, dem zu entkommen, selbst wenn man sich diese Frage gar nicht stellen will oder müsste. Als Christ oder Atheist in Deutschland zu leben, ist etwas ganz anderes als Jude oder Muslim. Solange man nicht nach außen erkennbar „nicht Deutsch“ ist, kann das auch eine Entscheidung sein. Wenn man über die eigene Familie spricht und in der Eltern- und/oder Großelterngeneration Fluchtgeschichten Teil der Biografie sind, geht das schon nicht mehr so leicht.

Was heißt für Sie Identität?

Ich bin ja nicht nur das, was ich selber von mir denke, sondern auch das, zu dem ich gemacht werde. Man ist ja nicht nur dann jüdisch, wenn man religiös ist. Die Definitionen, wer jüdisch ist und wer nicht, gehen ja weit auseinander und haben mit der Eigenwahrnehmung möglicherweise wenig zu tun. Laut der Halacha, dem streng-religiösen Gesetz, ist man nur Jude oder Jüdin, wenn auch die Mutter Jüdin ist. Eine Definition, die in Deutschland für meine Identität keine Rolle gespielt hat. Und dann gibt es natürlich die ganzen diskriminierenden Definitionen… In Israel stellen sich viele Menschen, die nicht religiös sind, die Frage nach ihrem Jüdischsein zum Beispiel meist gar nicht. Dort ist die Mehrheitsgesellschaft jüdisch. Die Grenzen verlaufen zwischen den verschiedenen Einwanderergruppen sowie christlichen und muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern.

Welche Rolle können Theater, Kunst und Film spielen, wenn es darum geht, ein Zusammenleben verschiedener Kulturen zu erleben?

Sie können den Horizont erweitern. Sie können dazu führen, dass man eigene Vorurteile und Stereotype hinterfragt, dass man verschiedene Aspekte anderer Lebensrealitäten, Kulturen, Nationen, Religionen zeigt, dass man begreift, dass es ein Spektrum gibt innerhalb jeder Kategorie, in die wir Menschen so gern einteilen. Dass es viele Narrative zu jeder dieser Kategorien gibt. Es ist gefährlich, ein zu einseitiges Bild zu erschaffen, denn es erzeugt Erwartungshaltungen, welche die Betrachteten entmenschlichen. Lebensrealitäten sind komplex. Sich dieser Komplexität anzunähern, dazu kann Kunst beitragen.

In diesem Jahr 2021 ist das Gedenkjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“. Was verbinden Sie mit diesem Jubiläum?

Ehrlich gesagt wusste ich, bevor einige Ausschreibungen an mich herangetragen wurden, nichts von diesem Jubiläum. Es kommt ja auch ein wenig konstruiert daher. Ich arbeite aber dieses Jahr noch an einem weiteren Projekt, das sich mit dem Thema „jüdische Identität“ beschäftigt: „Beide Quellen meines alten Blutes – A Jew Revue“, ebenfalls gefördert vom Verein „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, welches im Dezember in Berlin Premiere haben wird. Dieses und der Abend in Dorsten verbinden mich also mit dem Jubiläum.

Antisemitismus ist nach wie vor ein großes Thema in Deutschland. Wie haben Sie Antisemitismus erfahren und erlebt?

Auch wenn dies leider eine einende Erfahrung von jüdischen Menschen in Deutschland ist, weigere ich mich, darüber definiert zu werden. Die unterschiedlichen Manifestationen von Antisemitismus in Deutschland sind bekannt und viel besprochen. Meine Erfahrungen unterscheiden sich nicht in aufregender Weise von dem, was man sowieso weiß.

Über Nadia Migdal
1984 in Herne geboren und aufgewachsen in Bochum, begeisterte sich Nadia Migdal früh für das Theaterspiel. 2005 begann sie ihre Schauspielausbildung an der Zürcher Hochschule der Künste. Beim Theatertreffen deutschsprachiger Schauspielstudierender 2011 wurde sie in der Fachzeitschrift „Theater heute“ als beste Nachwuchsschauspielerin nominiert. Seit 2009 war Nadia Migdal an diversen Theatern engagiert, so in Tübingen, Trier, Salzburg, bei den Klosterspielen Wettingen, am Theaterhaus Gessnerallee in Zürich, am Saarländischen Staatstheater und am Wiener Burgtheater. Seit 2017 arbeitet Nadia Migdal freischaffend, zudem für Film und Fernsehen. 2020 erhielt sie gemeinsam mit dem Korso.op-Kollektiv eine Nominierung in der Kategorie Beste Regie in „Theater heute“. Nadia Migdal lebt zurzeit in Tel Aviv und Bochum.

Im Theaterstück „Let´s meet for a Kneidelsoup – 3nd generation mash up“ begeben sich die deutsch-israelische Schauspielerin Nadia Migdal und der israelische Schauspieler Uri Fahndrich auf die Suche nach den Wurzeln ihrer Identität. Der große gemeinsame Nenner: die Kneidelsuppe (Knödelsuppe). Diese verzehren Publikum und Schauspieler gemeinsam. Das Stück ist eine Reise durch die Generationen der beiden jüdischen Familien im 20. Jahrhundert und ist zugleich eine Suche nach heutigen Perspektiven und Projektionen, die man als jüdischer Mensch in Deutschland erlebt. Aufgeführt wurde das Theaterstück erstmals im Jüdischen Museum Westfalen im Rahmen des Festivals „Jüdische Kultur. Jetzt“ anlässlich des diesjährigen Festjahres „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“.

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