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Musik verbindet Religionen! In diesem Fall Judentum und Christentum. Gemeinsam mit dem Leipziger Synagogalchor wird der katholische Kammerchor „Cantus Dorsten“ am 3. Oktober 2021 um 17 Uhr in der Kirche St. Agatha in Dorsten ein Konzert geben. Unter dem Titel „Adonai! Herr! Werke aus Synagogen und Kirchen“ werden beide Chöre unter anderem Psalmen singen, die in beiden Religionen gebetet werden. Im Gespräch mit „Kirche-Leben.de“ erläutert Hans-Jakob Gerlings, Kantor an St. Agatha, wie das Konzert entstand und was jüdische Chormusik auszeichnet.
Herr Gerlings, Sie haben ein Konzert mit dem „Cantus Dorsten“ und dem Leipziger Synagogalchor organisiert. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Kantor Hans-Jakob Gerlings aus Dorsten. | Foto: privat
Da es in Dorsten seit 1992 das Jüdische Museum Westfalen gibt, sind Themen der jüdischen Religion und die Geschichte der jüdischen Deutschen sehr präsent in unserer Stadtgesellschaft. Vor acht Jahren habe ich mit der Chorgemeinschaft St. Agatha und zusammen mit Barbara Seppi ein Konzertprogramm mit Werken von Louis Lewandowski realisiert. Lewandowski, der Kantor der Neuen Synagoge Berlin hat im 19. Jahrhundert die jüdische Sakralmusik revolutioniert, Chor und Orgel in die Synagoge gebracht. Beim Durchsehen seiner Werke passte die schlichte, aber kraftvolle romantische Chormusik für eine Gemeinde perfekt zu unserem Kirchenchor.
Warum dieser Komponist?
Lewandowski hat Psalmen in deutscher und hebräischer Sprache vertont. Wir haben uns natürlich für die deutsche Variante entschieden, aber schon damals reifte die Idee, einen Chor einzuladen, der hebräische Texte authentisch interpretieren kann. Der Leipziger Synagogalchor ist da in Deutschland führend, und nun ergab sich mit meinem Kammerchor „Cantus Dorsten“ als Partner und Veranstalter die Gelegenheit dazu.
Die Psalmen werden sowohl im Judentum als auch im Christentum gebetet. Worin unterscheidet sich christliche Kirchenmusik von jüdischen Chorwerken?
Es gibt in der jüdischen orthodoxen Tradition keinen Chorgesang und keine Orgelwerke. Die jüdischen Komponisten haben sich an der Musik ihrer Zeit orientiert. Salamone Rossi komponierte um 1600 mehrstimmig A-capella auf den Spuren von Claudio Monteverdi. Lewandowski war, wie alle anderen Kirchenmusiker seiner Zeit, beeindruckt vom Vermächtnis Johann Sebastian Bachs und komponierte Chorsätze, kleine Fugen in dieser Tradition, harmonisch weiterentwickelt im musikalisch-romantischen Klangraum. Musikalisch unterscheidet sich diese Musik also in keiner Weise voneinander. Sie hat denselben, europäischen Ursprung.
Was erhoffen Sie sich von diesem gemeinsamen Konzert?
Die jüdischen Kirchenmusiker Europas, wenn wir sie so nennen wollen, waren Kinder ihrer Zeit und ihrer Länder, nutzten die Musik zum Ausdruck ihres Glaubens, spielten zur Ehre Gottes genau wie die christlichen Komponisten. Sie komponierten in ihrer Mutter- oder Landessprache und auch in hebräischer Sprache. Gerade in der deutschen Tradition der Romantik ist spürbar, wie verwurzelt die Musiker, und damit auch die Gemeinden, hier im Kulturkreis waren. Umso unglaublicher, was Mitte des 20. Jahrhunderts passiert ist. Der Holocaust hat übrigens genau diese jüdische Chor- und Orgelmusik beinahe zum Erliegen gebracht.
Wie konnte die jüdische Chormusik nach dem Holocaust überleben?
Die Überlebenden widmeten sich nahezu komplett der orthodoxen Gottesdienst-Praxis mit Kantor und ohne Chor- und Gemeindegesang. In den Vereinigten Staaten hat die Tradition des jüdischen Chorgesangs überlebt. Von dort aus kam er nach dem Zweiten Weltkrieg zurück nach Europa. Dies aufzuzeigen und einem breiteren Publikum verständlich zu machen, ist unser Anliegen. Denn es zeigt: Die sechs Millionen ermordeten Juden waren Deutsche, Polen und Ukrainer. Es waren Nachbarn, Freunde, Mitglieder der Gesellschaft, Musiker und Künstler, die Großartiges geschaffen haben.