Ein Besuch anlässlich der Unterzeichnung von „Fratelli tutti“ durch den Papst

Schlicht und einfach groß: Wie Assisi Franziskus prägte (Teil 2)

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Heute, am 3. Oktober, unterschreibt Papst Franziskus seine neue Enzyklika "Fratelli tutti". Dazu reist er eigens nach Assisi. Und das nicht ohne Grund: Von dort stammt der heilige Franz von Assisi, nach dem sich der Papst als Erster in der Kirchengeschichte benannt hat. Um den Heiligen zu verstehen, muss man es machen wie er: die Stadt verlassen. Besuch in San Damiano und in Portiuncula, wo Franz von Assisi starb – am 3. Oktober 1226.

Mancher eilige Assisi-Pilger erliegt bis heute derselben Versuchung, mit der auch der berühmteste Sohn der Stadt zu kämpfen hatte: dem Reiz des Großen, Übergroßen. Ausgerechnet. Steil geht es hi¬nauf aus dem umbrischen Tal zum Wallfahrtsziel, zur großen, dreigeschossigen und schon kunsthistorisch hochkarätigen Päpstlichen Basilika am Monte Subasio, der Grabeskirche des heiligen Franziskus. 

So groß ist der Berühmteste aller Heiligen der katholischen Kirche, dass „Poverello“ („der kleine Arme“) heute wie ein Superlativ der Harmlosigkeit klingt und schon sein Name manchen bis ins Mark erschüttert, wenn ein Papst ihn zu seinem macht. So groß war Francesco noch nie – auch wenn er jedem noch so säkularen Italiener seit Jahrhunderten als Talisman für alles und jedes am Autospiegel baumelt und in die Seele eingeschrieben ist. 

 

Runter vom Berg, runter vom Großen

 

Dabei hatte Franziskus selber seine Mühe mit dem Großen: mit dem Großen seines Familiennamens, mit dem Großen der Kirche, selbst mit dem Allergrößten und Allerhöchsten, anfangs. Wer Francesco heute im schmucken umbrischen Städtchen begegnen will, sollte es am besten wie er machen: runterkommen! Das Stadttor hinter sich lassen und vom Berg hinabsteigen, dem Tal zu.

Auf dem Weg hinaus stehen bald schon alte, Schatten spendende Bäume, rascheln die Blätter von Olivenbäumen, duftet die warme Luft nach Gras und flattern Schmetterlinge vor der Nase, ist der Himmel eine große, blaue Weite. Nach und nach verschwindet das Knattern der Dieselmotoren von hunderten Reisebussen im Grillenzirpen und Bienensummen eines warmen Spätnachmittags. 
Und auf einmal öffnet sich eine schnurgerade Zypressenallee zum Eigentlichen: nach San Damiano, dem Klösterchen, dem Kirchlein. Vor allem junge Menschen kommen hierher – auf der Suche nach einer einfachen, authentischen Kirche. Kein Wunder, dass San Damiano der Ausbildungsort der Franziskanernovizen hierzulande ist: Fangen wir am Anfang an.

 

Widerlich, bitter, liebevoll

 

Ganz so wie im Winter 1205/06 Francesco Bernardone, der Lebemann und Troubadour, Sohn eines reichen Tuchhändlers. Damals, nach verlorenen Schlachten und Perspektiven, ritt der Anfang Zwanzigjährige hinaus aus der Stadt, der Rest von einem Ritter hoch zu Ross, auf der Suche nach irgendwas, und traf wie so oft einen Aussätzigen. Diesmal jedoch, erzählen seine Biographen, auf einem derart schmalen Weg, dass an Ausweichen nicht zu denken war. 

Lesen Sie hier den ersten Teil dieser dreiteiligen Serie: "Hart aber ehrlich: Wie Assisi Franziskus prägte (Teil 1)"

Die späteren Gefährten berichten von der ersten entscheidenden Wende im Leben des Franziskus: „Während er sonst gewohnt war, vor Aussätzigen großen Abscheu zu haben, überwand er sich, stieg vom Pferd, reichte dem Aussätzigen ein Geldstück und küsste ihm die Hand.“ Er selber deutet dieses Widerfahrnis so: „Ich lebte 20 Jahre, als ob es Christus nicht gäbe. Damals schien es mir widerlich und bitter, Aussätzige zu sehen. Doch Gott selber hat mich zu ihnen geführt, und in der Begegnung mit ihnen ist meine Liebe erwacht.“

 

San Damiano – der zweite Durchbruch

 

Bald darauf betritt Francesco ganz in der Nähe eines Leprosenheims ein baufälliges Kirchlein – San Damiano – und erlebt seinen zweiten Durchbruch: Im Halbdunkel entdeckt er ein Ikonenkreuz, das Christus nicht als übergroßen Weltenrichter, nicht als ferne Majestät, sondern als verwundeten, leidenden, nackten Menschen zeigt. Franziskus auf Augenhöhe mit Gott – so hat der berühmte Renaissance-Maler Giotto diese Begegnung in der Oberkirche der großen Basilika von Assisi dargestellt: hier der wörtlich gut betuchte Kaufmannssohn unterm schützenden Dach, ihm gegenüber der entblößte Christus im ramponierten Gotteshaus. 

Zuerst die körperliche Erfahrung des armen Menschen im Aussätzigen, jetzt die mystische Erfahrung des armen Gottes als nackter, leidender Mensch, am Rand der Stadt: Der Allerhöchste ist hier unten. Im Einfachen, Kleinen zeigt der Allmächtige seine Größe und die unverlierbare Würde jedes Entwürdigten. Franziskus beginnt zu leben. Jetzt wirklich. Wie Gott will er Mensch werden: einfach, pur. 

 

„Zu flach und zu funktional“

 

Spätere Biographen deuteten das Erlebnis von San Damiano als göttlichen Auftrag, die Kirche wieder aufzubauen – die baufällige Kapelle vor den Toren von Assisi und die reformbedürftige Großkirche. Auch wenn heutige Franziskus-Experten wie Nikolaus Kuster, Schweizer Provinzvikar der Kapuziner, diese Deutung als „zu flach und zu funktional“ deuten: Francesco beginnt – bald mit Helfern –, San Damiano wiederherzustellen. 

Später sollte er Kirche und Klösterchen seiner ersten Gefährtin, der heiligen Klara, und ihren Schwestern anvertrauen. Gegen Ende seines Lebens kehrt er schwer augenkrank hierher zurück, soll dann hier seinen „Sonnengesang“ geschrieben haben – sein Loblied auf die Schöpfung, in dem er sogar den Tod seinen Bruder nennt.

Klein, schmal, dunkel und heimelig ist die Kirche bis heute. Überm Altar vor dem engen, winzigen Chorgestühl hängt nach wie vor dieses Ikonenkreuz – wenn auch als Kopie, während das Original in der Stadtkirche Santa Chiara verehrt wird. Abends zur Vesper der jungen Franziskaner fällt ein wenig Sonnengold in den Raum. In warmen, wunderschönen Melodien singen sie mit vielen Jugendlichen die Psalmen. Die jungen Menschen bleiben auch da ruhig und ergriffen, als der große Gott in einer kleinen Monstranz schweigend verehrt wird, gute 15 Minuten lang. 

 

Er starb nackt wie sein großer Gott

 

Unten in der Stadt liegt eine andere kleine Kirche, von außen gar nicht zu sehen, weil eine große, einige riesige darüber gebaut ist. Drinnen birgt die Basilika Santa Maria degli Angeli das alte Kirchlein „Portiuncula“, wörtlich ein „Fleckchen Land“: noch so eine Verniedlichungsform für einen kleinen, großen Ort im Leben des Poverello, den er zum Zellkern der franziskanischen Gemeinschaft aufbaute. 

Am Anfang aber, am Matthiasfest 1208, hört der noch immer suchende Francesco dort das Evangelium von der Aussendung der Jünger ohne Hab und Gut zu den Menschen. Vom Priester lässt er sich den Text erläutern, und findet endlich seinen Weg: „Ohne Zaudern machte er sich ein sehr schmuckloses Gewand“, berichten die Gefährten, „warf den Riemen weg und nahm als Gürtel einen Strick.“ 

Rund zehn Jahre später gehören rund 5000 Brüder seiner Gemeinschaft an, die alljährlich am Pfingstfest in Portiuncula zum „Mattenkapitel“ zusammenkommen. Dorthin lässt er sich auch bringen, als sein Tod naht. Dort stirbt er am 3. Oktober 1226, nach Sonnenuntergang. Nackt auf der nackten Mutter Erde, wie er geboren wurde – auch bei seiner zweiten Geburt, als er sich nackt von seinen Eltern verabschiedete. Nackt auch wie sein großer Gott, als er Mensch wurde und als er am Kreuz starb.

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