Ein Besuch anlässlich der Unterzeichnung von "Fratelli tutti" durch den Papst

Hart aber ehrlich: Wie Assisi Franziskus prägte (Teil 1)

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Am 3. Oktober unterschreibt Papst Franziskus seine neue Enzyklika "Fratelli tutti". Dazu reist er eigens nach Assisi. Und das nicht ohne Grund: Dort starb am 3. Oktober 1226 der heilige Franz von Assisi, nach dem sich der Papst als Erster in der Kirchengeschichte benannt hat. Wer Assisi kennt, verliebt sich sofort in das urige Bergstädtchen. Ein Besuch in einem besonderen Landstrich, der den heiligen Franziskus damals prägte und nicht nur den Papst auch heute (Teil 1).

Umbrien ist Urland. Man erzählt, ursprünglich seien die Umbrer die Überlebenden der Sintflut gewesen. Das mag erklären, warum sie fern vom Meer gesiedelt haben, in der einzigen Provinz Italiens, die ringsum von Land umschlossen ist: von der Toskana im Westen, der Emiglia Romagna im Norden, den Marken im Osten und Latium im Süden. 

Umbrien ist Erdenland, der Umbrer Bodenständigkeit auf kräftigen Beinen. Ein Sizilianer zum Beispiel würde wohl auf eine simple Frage, etwa nach dem Weg oder der Uhrzeit, mit ausladendem Monolog antworten; ein Umbrer hingegen begnügt sich mit drei Wörtern und geht gegebenenfalls in sich, bevor er in einem Anfall von Gesprächigkeit ein viertes dranhängt. Kein Wunder, dass der berühmteste Umbrer, der heilige Franziskus, seine Brüder anwies, kurz und knapp und mit einfachen Worten vom großen Gott zu sprechen.

 

Zu Gast bei den Westfalen Italiens

 

Die Umbrer – das sind die Westfalen Italiens: fromm, fleißig, sprachfaul. Auf ihrer Speisekarte gediegen Deftiges: Wildschwein, Trüffel, Eselswurst, wilde Kräuter, kräftige Weine und nur aus Wasser und Mehl gezauberte Pasta, die grob und rau mitunter auch mal „Priesterwürger“ („strozzapreti“) heißen kann.

Eindeutig eine andere Welt als die edle Toskana in der Nachbarschaft: Florenz und Volterra, Lucca, Pisa, Siena oder San Gimignano, San Miniato und Montepulciano – hochkarätige Kulturorte seit Jahrhunderten, weltbekannt, von Millionen besucht, mit reicher Geschichte und ebensolchen Berühmtheiten aus Kirche, Kunst und Politik. Um die toskanischen Städte herum feine, sanfte Landschaft aus weichen Hügeln, verträumten Olivenhainen, einsamen Pinien und akurat gesetzten Säulenzypressen. Hier ist die Leichtigkeit des Seins zuhause und fühlt sich wohl inmitten alles Schönen, Wahren, Guten, das zu schaffen Maler, Dichter und Denker fähig sind.

 

Hart, aber ehrlich

 

Umbrien hingegen ist zweifellos bescheidener – eine Gegend, wo das Leben weniger „dolce“ als vielmehr „dura“ oder „pura vita“ ist: hart, aber ehrlich. Im grandiosen Dom von Orvieto etwa, im Westen dieser drittkleinsten Region Italiens als eines ihrer Juwelen gelegen, ist reichlich ernst die dramatische „Predigt des Antichristen“ im überwältigenden Endzeitfresko von Luca Signorelli zu sehen.

Ohnehin ist diese Stadt auf dem Berg weit mehr als nur ihres berühmten Weines wegen einen Besuch wert. Die glitzernde, dutzende Geschichten erzählende Fassade der schwarz-weiß gestreiften gotischen Kathedrale sucht Ihresgleichen, romantische Plätze, stolze Paläste und sogar hochkarätiger Jazz lassen die uralte Etruskerstadt bis heute modern und lebendig erleben.

Ähnliches gilt für Perugia, die Hauptstadt der rund 900.000 Menschen zählenden Provinz Umbrien. Ein junger, quirliger Ort, dessen Stolz sich über Jahrhunderte in blutigen Kriegen mit Papst, Kaiser und Nachbarstädten beweisen wollte. 

 

Francescos Debakel

 

Wohl im Jahr 1202 verändert ein Gemetzel zwischen Perugia und dem gut 20 Kilometer entfernten Assisi das Leben eines Menschen, der heute jährlich rund fünf Millionen Menschen in seine Heimatstadt zieht: Francesco. Um 1181 als Sohn eines zu Reichtum gekommenen Tuchhändlers geboren, erlebt er, wie Assisi seine Adeligen vertreibt, zur demokratischen Bürgerstadt wird und Kaufmannsfamilien wie der seinen bislang ungeahnten Aufstieg beschert. Manche ziehen Verbindungen zwischen diesen Demokratie-Erfahrungen und einem ähnlichen Gemeinschaftsverständnis der späteren franziskanischen Bewegung.

Zurück zum Anfang. Franziskus genießt das Leben: „Dem Spiel und Sang ergeben, durchzog er bei Tag und Nacht mit Gleichgesinnten die Stadt Assisi“, heißt es in der bald nach seinem Tod entstandenen „Dreigefährtenlegende“. Das Rittertum gilt ihm als großes Ziel, für dessen Erreichung er 1202 gegen Perugia in den Krieg zieht. Die Städtefehde gerät zum grauenhaften Debakel, Francesco wandert für ein ganzes Jahr in den Kerker der verhassten Stadtrivalin und kehrt ernst und krank nach Assisi zurück. 

 

Der Beginn einer unruhigen Suche

 

Sein Leben lang sollte Franziskus ein Sänger, Tänzer, Lebensfreund und bei aller Armut auch ritterlich-edler Mann bleiben. Damals aber wagt er es zunächst noch einmal, seinen Traum von Pferden, Schwertern und Schilden Wirklichkeit werden zu lassen, und schließt sich 1205 dem Apulienfeldzug des Papstes an. – Doch schon nach zwei Tagen kehrt er zurück. Die Überlieferung erzählt, er habe auf dem Nachtlager in Spoleto unruhig von einer Stimme geträumt, die ihn gefragt habe, warum er Knechten nachlaufe und nicht dem Herrn selbst.

Und damit beginnt für Francesco eine ihn umhertreibende Suche. Auch wenn er sein bisheriges Leben äußerlich weiterführt, lassen ihn die dunklen Erfahrungen von Krieg, Kerker und Krankheit nicht los, die ihn offenkundig – angstvoll noch – an den Kern des Menschseins führen. Was nützen Ansehen, Geld und Macht, prachtvolle Kleidung und ausschweifendes Leben, wenn er innerlich nackt und leer bleibt?

 

Assisi – ein Auf und Ab

 

Dunkelheit, Nacktheit und Leere – das sind die Motive, die Franziskus bleibend bewegen sollten: Immer wieder zieht er sich in Höhlen außerhalb der Stadt zurück, wird sich später vor den Augen seines Vaters aller Kleider entledigen, um losgelöst von allem das Wesentliche leben zu können. 
Es sind diese Wege hinaus und he­rein, herauf und hinab, die bis heute in Assisi erfahren – oder besser: ergangen werden können.

Mehr noch: Diese Erfahrung schiebt sich regelrecht unter die Füße eines jeden, der in dem schmucken Städtchen am Ausläufer des Monte Subasio unterwegs ist. Immer geht es steil hinauf oder steil hinab, und wo es eine Zeit lang eben zugeht, aus der Stadt hinaus oder in sie hinein. Die groben, hellen Sandsteine, aus denen Mauern, Bögen, Häuser und Kirchen gebaut sind, vermitteln urige Zeitlosigkeit, lassen Francesco und seine Gefährten singend und bettelnd hinter dieser Straßenbiegung oder in jener verwinkelten Gasse ahnen.

 

Manches ist heute wie damals

 

Natürlich: Die Gebeine des Heiligen sind der Schatz von Assisi. Sie waren es, als der lange Verachtete dieseits der Stadtmauern seine letzte Ruhe fand, und sie sind es bis heute. Hotels, unzählige Devotionalien- und Andenkenläden, Restaurants und Bars machen es nicht eben leicht, zum heiligen Franziskus durchzudringen, zum Glauben in all dem Trubel, dem Kern in all dem Unwesentlichen. Selbst wer durchs Hauptportal der großen Basilika San Francesco zu seinem Grab gelangen will, muss erst zwei über­einander geschichtete Kirchbauten bis ganz nach unten durchsteigen.

Manches aber ist heute so wie damals. Der antike Minerva-Tempel etwa auf der Piazza del Comune, der erst 400 Jahre nach Francescos Tod zu einer Kirche umgebaut wurde. Gleich um die Ecke stand sein Geburtshaus, heute überbaut von der Chiesa Nuova – samt jenem kleinen Verschlag, in den sein Vater Pietro Bernardone den ungehorsamen Verrückten sperrte. Seine Mutter schließlich befreite ihn, und so steht sie heute als Bronzefigur mit gelösten Ketten in der Hand vor der Kirche – neben ihrem Ehemann. Äußerlich ganz wie damals: der Dom San Rufino und sein romanischer Pantokrator am Portal. 

All dies sind Wende-Orte, die nicht nur das Leben des „Poverello“ zu wandeln vermochten. Wo er Gott im Tympanon des Doms als den fernen Herrscher über Himmel und Erde wahrgenommen und die Kirche als Ort gesellschaftlicher Pflichtübung erlebt hatte, erfährt er bald den anderen, den liebenden, sich entäußernden, nackten Gott: im gemarterten Jesus am Kreuz eines verfallenen Kirchleins vor der Stadt und in der Erbärmlichkeit der Armen auf ihren Straßen. Franziskus kommt zur Welt wie Gott zur Welt kam, entdeckt in der Schöpfung den Schöpfer – und in seiner Heimat Umbrien, dem Urland, dem Erdenland, den Ursprung. 

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