Ethikerin über Chancen und Probleme im Trauerprozess

Tot, aber ansprechbar: Wenn Avatare verstorbene Angehörige ersetzen

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Ein Gespräch mit jemandem, der bereits verstorben ist? Diese Möglichkeit wünschen sich einerseits viele, andererseits reagieren viele auf künstliche Animationen skeptisch. Die Tübinger Ethikerin Jessica Heesen beschäftigt sich damit, welche Konsequenzen derartige Entwicklungen haben können. Ein Interview über Chancen im Trauerprozess und mögliche Probleme durch Manipulation. 

Frau Heesen, wie sind Sie dazu gekommen, sich mit dem Thema Avatar – also eine durch Künstliche Intelligenz (KI) entwickelte Animation einer Person – zu beschäftigen?

Na ja, ursprünglich kam das Thema zu mir. Ich habe mich schon viel mit dem Thema KI und Ethik sowie mit Datenschutz beschäftigt. Kollegen, die sich mit den Rechten von Toten beschäftigten, brauchten noch eine Einschätzung zur ethischen Perspektive und kamen auf unser Zentrum zu. Ich hatte mich auch schon zuvor mit Avataren befasst, weil mich das interessierte.

In einigen öffentlichen Bereichen wird der Umgang mit Avataren bereits genutzt. 

Ja, zum Beispiel in der Museumspädagogik. Da können sich Besucher in Museen etwa mit Hologrammen von Holocaust-Überlebenden unterhalten. Aus diesen technischen Möglichkeiten wurde dann die Geschäftsidee entwickelt, auch privaten Personen von ihren nächsten Angehörigen einen Avatar erstellen zu lassen, um auch nach deren Tod weiter mit ihm sprechen zu können.

Und das wird genutzt?

Ja, in den USA etwa, aber belastbare Zahlen gibt es dazu noch nicht, und in Deutschland wird diese Möglichkeit bislang kaum umgesetzt.

Inwieweit kann ein solcher Avatar im Trauerprozess hilfreich sein?

Trauern ist ein sehr individueller Prozess. Viele sprechen ganz selbstverständlich mit Verstorbenen, gehen an das Grab, haben Erinnerungsstücke oder schauen sich immer wieder Fotos an. Von daher gibt es vor allem bei jüngeren Menschen, die viel digital unterwegs sind, den Wunsch, durch einen Avatar nach dem Tod mit jemandem im Austausch zu bleiben. Das kann dann durchaus bei der Trauerbewältigung helfen. Das bestätigen uns Psychologen. Die Nutzer und Nutzerinnen wissen, dass der Tod real ist; die Beschäftigung mit dem Verstorbenen kann aber helfen, etwa weil man ihm noch etwas sagen wollte.

Dann müsste der Avatar bereits zu Lebzeiten erstellt werden?

Jessica Heesen ist am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften Leiterin des Forschungsschwerpunktes Medienethik, Technikphilosophie und Künstliche Intelligenz (KI).

Zwei Wege sind möglich, die aktive Erstellung eines Avatars als Vermächtnis durch die Person selbst oder die nachträgliche Rekonstruktion auf Grundlage der vorhandenen Daten – Videos oder anderes. Derjenige, dessen Avatar erstellt werden soll, hat zu Lebzeiten natürlich mehr Möglichkeiten mitzuwirken, um den Avatar durch eine KI mit Wissen und Erfahrungen zu „füttern“.

Und was sind die Schattenseiten, wenn man so Kontakt zu Verstorbenen hält?

Trauernde können dadurch Schwierigkeiten haben loszulassen. Sie bewegen sich in einer Endlosschleife, weil der Trauerprozess nicht weiter geht. Die Avatare können eine sehr hohe Suggestivkraft haben. Das ist anders als bei einem Foto des Verstorbenen. Bei entsprechender Programmierung können digitale Imitationen auch die Angehörigen selbst ansprechen, etwa durch einen Telefonanruf.

Was ist für Sie noch problematisch?

Rechtlich ist bislang kaum etwas geregelt, und so können Avatare leicht gekapert und dann missbraucht werden. Sie können in Pornos projiziert werden oder der Avatar eines Verstorbenen kann so manipuliert werden, dass er etwa Anhänger des Nationalsozialismus ist.

Da braucht man nur an die sogenannten Deepfakes zu denken – Bilder von Prominenten, die auf einmal in einen ganz anderen Zusammenhang gestellt werden und den Papst in einer edlen Daunenjacke zeigen. Es braucht da eine Abschätzung der Folgen. Wir stehen hier noch am Anfang.

Sprechen Sie auch mit Religionsvertretern über Avatare?

Tatsächlich haben wir auch schon Kirchenvertreter zu Workshops über dieses Thema eingeladen, bislang stieß das aber auf ein eher geringes Interesse.

Ein Blick in die Glaskugel: Was denken Sie, wird es in 20 Jahren üblich sein, dass fast jeder schon zu Lebzeiten einen Avatar von sich erstellen lässt?

Ja, ich denke, das wird sogar schon viel früher der Fall sein. Die Nutzung von KI-Assistenten und menschlichen Imitationen verbreitet sich rasant, und dann braucht man für die Avatare quasi nur noch einen Hebel umzulegen.

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