Ordensmann in Frankfurt im Interview über seinen ungewöhnlichen Lebensweg

Aus dem Büro ins Kloster: Der Coesfelder Michael Wies ist Kapuziner-Chef

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Bruder Michael Wies), geboren im westfälischen Coesfeld, leitet das Kapuzinerkloster in Frankfurt am Main und den "Franziskustreff" für Obdachlose mitten in der Banken-Metropole. Warum er sich mit 24 Jahren von sicherem Job und Freundin verabschiedet hat und was ihn heute glücklich macht, erzählt er im Interview.

Bruder Michael, welchen Beruf hatten Sie ursprünglich?

Ich bin gelernter Bürokaufmann, mit Fachabitur in Wirtschaft und Verwaltung. Im Alter von 17 bis 24 Jahren habe ich in Verwaltungen gearbeitet, zum Beispiel in einem Krankenhaus und einem Versicherungsunternehmen.

Wie war Ihre ursprüngliche Lebensplanung?

Dass ich weiter in Coesfeld geblieben und meinem Beruf nachgegangen wäre. Ich hätte mich viel mit meinen Freunden getroffen, und ich hätte auch gerne eine Familie gegründet.

Sie hatten eine Freundin?

Ja, ich hatte Freundinnen.

Dann kam das Jahr 2006. Da waren sie 24 Jahre alt und haben an einer Wallfahrt ins französische Vezelay in Burgund teilgenommen.

Eigentlich wollte ich zusammen mit Freunden in Urlaub fahren, aber in dieser Woche hatte keiner Zeit. So habe ich mich kurzentschlossen bei einer Sternwallfahrt angemeldet. Ich wanderte in einer kleinen Gruppe, zusammen mit Ordensleuten und Nicht-Ordensleuten. Das Thema lautete "Auf zu neuen Horizonten" - und das passte für mich.

Waren Sie unzufrieden mit Ihrem Leben?

Unzufrieden nicht unbedingt, aber die Arbeit hat mich nicht mehr ausgefüllt. Und wenn ich mit Freunden auf eine Party gegangen bin, war das auch nicht mehr so toll.

Hatten Sie schon immer einen Bezug zur Kirche?

Ja, ich war Messdienerleiter und Vorstandsmitglied des Ferienwerks in meiner Gemeinde in Coesfeld. Aber auch die verschiedenen Ämter verloren irgendwann ihren Reiz.

Was passierte bei der Wallfahrt?

Ich habe einfach gespürt, dass Gott mich zieht, und dass mir auf einmal das Beten wichtig war. Dort bin ich auf die Biografie des heiligen Franziskus und der heiligen Klara gestoßen. Diese Radikalität von Franz von Assisi, alles stehen und liegen zu lassen, um bei den Armen zu sein, hat mich nicht mehr losgelassen.

Wie war das, als die Berufung ganz klar war?

Irgendwann ruht man in sich. Das Frühere war einfach nicht mehr so attraktiv für mich. Das spürt man, und dann geht man diesen Schritt. Bei Führungen mit Schulklassen sage ich manchmal, man kann ja in der Theorie über das Küssen nachdenken, aber wenn man es nicht praktiziert, dann weiß man nicht, wie das ist. So ähnlich ist das mit dem Ordensleben.

Wie war es, sich von den Freunden zu trennen?

Sehr schwierig. Wenn man Freunden erzählt, dass man ins Kloster geht, dann schockt man die erstmal. Auch die Eltern, Großeltern, alle. Das Loseisen war nicht einfach. Aber ich wusste, ich muss es machen, sonst werde ich nicht glücklich.

Nimmt der Habit nicht etwas von der Individualität? Möchten Sie nicht manchmal in Jeans und T-Shirt herumlaufen?

Ab und zu kann ich das auch, wenn ich zum Beispiel zum Sport gehe. Ich gehe regelmäßig Schwimmen.

Wenn ein Richter seine Robe überstreift, kann er sie nach ein paar Stunden wieder ausziehen...

Das ist keine Last für mich, sondern eine Lebensform. Das Gewand trägt eine Botschaft in sich. Ich möchte den Menschen Christus verkünden. Und der Strick, mit dem der Habit um die Hüfte zusammengehalten wird, hat drei Knoten auf der rechten Seite - die stehen für die drei Gelübde Armut, Gehorsam und Keuschheit.

Apropos Keuschheit: Wie ist das, wenn man weiß: Ich bleibe jetzt mein Leben lang Ordensbruder, selbst wenn ich eine total nette und attraktive Frau kennenlernen würde?

Man muss doch in jeder Beziehung jeden Tag neu innerlich ja sagen, auch wenn man verheiratet ist oder eine Freundin hat. Die Frage ist doch: Wie ernst nimmt man den Stand, den man sich erwählt hat?

Was haben Sie als Ordensbruder über die Keuschheit gelernt?

Das kann ich pragmatisch beantworten. Unser Novizenleiter hat gesagt: In der Seelsorge werdet Ihr viele Frauen kennenlernen, und wenn Ihr Euch da nicht für Euren Weg entscheidet, werdet Ihr immer schlingern.

Gibt es etwas, das Sie als Ordensmann überrascht hat?

Dass mein Orden mich zum Studieren geschickt hat - zum Studium der Sozialen Arbeit und der Sozialpädagogik. Das hatte ich nicht auf meinem Plan, das war eine Horizonterweiterung. Und auch das Jahr auf den Philippinen, 2013/14, da habe ich begriffen: Wir sind ein Weltorden, weltweit vernetzt. Diese Internationalität und Interkulturalität habe ich vorher nicht gesehen.

Sie haben täglich mit Armen und Obdachlosen zu tun. Sehen Sie in ihnen Christus?

Ja, ich sehe in ihnen eine personalisierte Würde. Man darf Menschen nicht nach dem Aussehen beurteilen. Obdachlose erinnern mich daran, wie bruchstückhaft das Leben ist und wie schnell es eine andere Bahn nehmen kann. Von Obdachlosen kann man auch Demut lernen. Wer obdachlos ist, hat nichts - nur das, was er bei sich hat. Das sind Lebenskünstler, Überlebenskünstler, die mit einem Minimum klarkommen. Andere Bürger würden doch, wenn sie auf der Straße leben müssten, bei zwei Grad Minus schnell eine Lungenentzündung bekommen und sterben.

Kennen Sie Banker oder andere - nach außen hin - erfolgreiche Unternehmer, die mit ihrem Leben unzufrieden sind?

Ja, Banker, Rechtsanwälte, Politiker. Das war für mich eigentlich das Überraschendste: In dem Moment, in dem ich Ordensmann wurde, bekam ich sehr viel Vertrauliches erzählt. Ich weiß inzwischen ganze Familiengeschichten und werde von vielen Menschen gebeten, etwas "mit ins Gebet zu nehmen". Das ist ein Wahnsinns-Vertrauensbeweis, aber auch eine Wahnsinns-Aufgabe. Ich betreue zum Beispiel viele Studierende. Ich erfahre Dinge von ihnen, darf hinter die Kulissen gucken. Da wird einem klar: Alle sind auf der Suche. Und das Leben ist nicht immer nur Freude. Es ist auch Scheitern und Veränderung.

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