Pater Daniel Hörnemann: Gott sucht Partner, keine Untertanen

Auslegung der Lesungen vom 11. Sonntag im Jahreskreis / Lesejahr A

Anzeige

"Ihr habt gesehen, wie ich euch auf Adlerflügeln getragen und zu mir gebracht habe." So heißt es in der ersten Lesung dieses Sonntags. Das erinnert an das Lied "Lobe den Herren", von dem es heißt, "der alles so herrlich regieret, der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet". Was damit gemeint ist, erläutert Pater Daniel Hörnemann aus der Abtei Gerleve in seiner Schriftauslegung.

Es war einmal ein etwas füllig geratener Vogel, der nicht umsonst den Spitznamen „Fette Henne“ bekam. Die 2,5 Tonnen schwere Abbildung hing als großes Wandrelief im Bonner Bundestagsplenarsaal. Diese Adlerfigur fand sich tausendfach auf Fotos, Zeichnungen und natürlich Karikaturen.

Ein ganz anderes Adlermotiv bewahrt das Liedgut. Joachim Neander hat das weitverbreitete Lied von 1680 ursprünglich gar nicht für den Gottesdienst in der Kirche gedacht, es sollte, wie es im barocken Titel heißt, „auff Reisen / zu Hauß oder bei Christen-Ergetzungen im Grünen“ gesungen werden: „Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret, der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet, der dich erhält, wie es dir selber gefällt; hast du nicht dieses verspüret?“

Auf Schwingen getragen

Die Lesungen vom 11. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A) zum Hören finden Sie hier.

In ähnlichen Bildworten bezeugt bereits das Erste Testament: „Der Herr ging mit ihnen um wie ein Adler, der seine Jungen fliegen lehrt: Er scheucht sie aus dem Nest, begleitet ihren Flug, und wenn sie fallen, ist er da, er breitet seine Schwingen unter ihnen aus und fängt sie auf” (Dtn 32,11).

Ein Adlerjunges sitzt wohlgeborgen im riesigen, gemütlichen Nest seiner Mutter. Es braucht sich nicht um Nahrung zu kümmern und ist vor Feinden sicher. Doch auf einmal reißt die Adlermutter Äste aus dem Nest. Es wird zusehends ungemütlicher. Anschließend drückt die Mutter das Adlerjunge, zu seinem blanken Entsetzen, über den Nestrand hinaus. Unbeeindruckt von seinem aufgeregten Flattern schiebt die Mutter es in die endlose Tiefe. Laut piepsend und in Todesangst breitet das Adlerjunge seine schwachen, flugunerprobten Flügel aus und geht im Sturzflug zu Boden. Bevor das Junge jedoch auf einem Felsen zerschellt, taucht wie aus dem Nichts die Mutter unter dem Adlerjungen auf, fängt es mit ihren mächtigen Schwingen wenige Meter über dem Boden auf und bringt es zurück in sein Nest. Sobald sich das Junge erholt hat, beginnt der Flugunterricht von neuem, bis es die Lektion gelernt hat.

Israel soll Leben lernen

Diese Naturbeobachtung ist der Hintergrund des Adlerspruches im Exodusbuch. Israel soll flügge werden und Leben lernen in selbstverantworteter Freiheit. Es soll durch die Ereignisse der Vergangenheit den eigentlich Handelnden in seiner Geschichte erkennen, seine offenkundige Sorge und Führung. Der Adlerspruch (Ex 19) sammelt wie in einem Brennpunkt die Einzelerlebnisse des Exodus auf den Herrn hin: „Ich habe euch hierher zu mir gebracht“.

Das ist das eigentliche Ziel. Gott hat sein Volk getragen, es durfte sich in seiner Liebe sicher geborgen fühlen. Wie ein Adler ist der Herr in Ägypten eingedrungen, hat sich Israel als kostbare Beute geholt und es zu seinem heiligen Berg getragen, um ihm dort seinen Bund anzubieten.

Heiliges Heidenvolk

„Jetzt aber“ – damit werden die Hörer zu größter Aufmerksamkeit gefordert. In der besonderen Erwählung Israels geht es um eine Liebesverbindung: „Ich will euer Gott sein und ihr sollt mein Volk sein“. Israel erhält drei verschiedene „Ehrentitel“: es ist Gottes „Sondergut“, ein „Königsbereich von Priestern“ und ein „heiliges Heidenvolk“. Bemerkenswerterweise wird nicht den Israeliten als Einzelnen, sondern Israel insgesamt das Priestertum zugeschrieben. Stellvertretend und beispielhaft soll ganz Israel der Welt Gott nahebringen. Israel ist nichts Besonderes aus sich.

In dem Paradox „heiliges Heidenvolk“ kommt klar zum Ausdruck, dass Israel nicht mehr ist als die anderen (Heiden-)Völker, sondern nur aufgrund seiner Erwählung Anteil an Gottes Heiligkeit hat. Gott sucht Partner, keine Untertanen – das soll Israel der gesamten Welt deutlich machen. Vor dem Anspruch kommt der Zuspruch. Israel wurde in die Freiheit hinausgeführt, diese Freiheit bedeutet jedoch nicht Bindungslosigkeit. Der biblische Exodus führt zur Anbindung, zum Bund mit dem lebendigen Gott.

Verantwortung des Menschen

Der Autor
Pater Daniel Hörnemann OSB | Foto: Markus Nolte
Pater Daniel Hörnemann OSB ist Mönch der Benediktinerabtei Gerleve bei Billerbeck und Theologischer Berater von „Kirche+Leben“. | Foto: Markus Nolte

Auch wir heutige Menschen sind hineingestellt in die Freiheit, damit zugleich in die Verantwortung, wie wir sie leben. Es ist meine urpersönliche Entscheidung, „der mich auf Adelers Fittichen sicher geführet, der mich erhält, wie es mir selber gefällt; hab ich nicht dieses verspüret?“

Ich kann auf das Angebot Gottes eingehen, im Glauben an den leben, der mich geschaffen und mich durch die unterschiedlichen Phasen meines Lebens hindurch begleitet hat. Ich kann mich dem aber auch verweigern. Es steht in meiner Freiheit und Verantwortung: Ja oder Nein zu Gott zu sagen und von ihm Zeugnis zu geben.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 11. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A) finden Sie hier.

Anzeige