Theologie-Professor Michael Seewald: Glauben braucht Treue – und Kritik

Auslegung der Lesungen vom 2. Fastensonntag (Lesejahr B)

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Zwei scheinbar völlig unterschiedliche Vater-Sohn-Geschichten stehen im Zentrum dieses Sonntags: In der alttestamentlichen Lesung soll Abraham Gott seinen Sohn Isaak opfern, im Evangelium ertönt aus dem Himmel über Jesus die Stimme: "Dies ist mein geliebter Sohn." Dazu sind beide Texte auf einem Berg angesiedelt. Was es mit dieser Verbindung auf sich hat, erläutert Michael Seewald, Theologie-Professor in Münster, in seiner Schriftauslegung.

Es gibt erzählerische Motive, die an verschiedenen Stellen der Bibel leicht verändert wiederkehren. Bei der Stimme, die aus dem Himmel ruft, „das ist mein geliebter Sohn“, handelt es sich um ein solches Wandermotiv. Markus hat es bereits zu Beginn seines Evangeliums bei der Taufe Jesu eingeführt. An diesem zweiten Fas­tensonntag begegnet es uns bei der sogenannten Verklärung. Jesus steigt mit dreien seiner Jünger auf einen Berg und wird dort, so erzählt Markus, vor ihren Augen „verwandelt“. Seine Kleider werden strahlend weiß und zwei große Gestalten aus der Tradition Israels, Mose und Elija, reden mit Jesus.

Wie bei so vielen Bibelstellen würde man den Gehalt dieser Szenerie verfehlen, wenn man zu fragen begänne: Wie kann solch eine Verklärung vonstattengehen? Wo sind plötzlich Mose und Elija hergekommen? Hat wirklich eine Stimme aus einer Wolke gesprochen?

 

Warum Mose und Elija?

 

Die Lesungen vom 2. Fastensonntag (Lesejahr B) zum Hören finden Sie hier.

Die Evangelien liefern keine Vorgangsbeschreibungen, sondern sind literarisch äußerst dichte Erzählsammlungen. Als solche müssen sie gedeutet werden. Die passende Frage lautet also nicht: Wie ist es möglich, dass Mose und Elija sich mit Jesus auf einem Berg unterhalten, sondern warum lassen die Evangelien gerade Mose und Elija in dieser Szene auftreten?

Mose empfing, so heißt es im Buch Exodus, das Gesetz Gottes auf einem Berg, um es den Israeliten zu verkünden. Mose steht für die Festigkeit der religiösen Lebensordnung Israels. Elija war ein Prophet, der Königen mutig entgegentrat, Witwen beistand und Missstände anprangerte. Gesetz und Prophetie einander gegenüberzustellen, wäre zu kurz gegriffen. Denn Mose, der Gesetzgeber, wird auch als Prophet verehrt, und Elija, dem Propheten, ging es nicht einfach um eine Störung der Ordnung, sondern um deren Wiederherstellung. Beide Aspekte, das Festhalten an etwas, das im Glauben als gegeben erfahren wird, und die Kritik daran, wo es veräußerlicht oder entstellt wird, gehören zusammen.

 

Was stützt mich wirklich?

 

Die Fastenzeit bietet Gelegenheit, diese Zusammengehörigkeit zu ergründen. Die Zeichen der Vergänglichkeit und der äußerlichen Schlichtheit, wie sie sich in der Liturgie dieser Tage finden, fragen: Welche Ordnungen stützen mein Leben im Glauben, möglicherweise auch im Zweifel, tatsächlich? Der Ruf nach Einkehr und Umkehr gibt aber auch im prophetischen Sinne zu bedenken: Welche Ordnungen, die mit dem Anschein des Wichtigen daherkommen, sind entkernt und entleert, zur Hülle geworden oder gar in ihr Gegenteil verkehrt?

Das rechte Maß zwischen Gesetz und Prophetie vermag dem Leben eine Form zu geben, die bestimmt, ohne zu knechten, die in feste Bahnen führt, ohne einzusperren. Eine solche Form ist selten von Dauer, weder im Dasein der Kirche noch im Leben des Einzelnen. Sie schleift sich entweder im Alltag ab oder verhärtet sich. Von Zeit zu Zeit muss die rechte Form daher durch Beten und Besinnung neu gefunden und angeeignet werden.

 

40 Jahre, 40 Tage

 

Der Autor
Professor Michael Seewald.

Michael Seewald ist Professor für Dogmatik an der Universität Münster.

Der verlegene Vorschlag des Petrus, drei Hütten zu bauen, um die Eintracht von Gesetz und Prophetie, die er schaut, zu verstetigen, wird keiner Antwort gewürdigt. Stattdessen verweist eine Stimme aus dem Himmel auf Jesus: „Das ist mein geliebter Sohn.“

Dass dieser Sohn in die Gesellschaft Elijas gehört, der, so heißt es im Zweiten Buch der Könige, nicht gestorben ist, sondern „entrückt“ wurde, und in die Gesellschaft des Mose, der die Israeliten 40 Jahre durch die Wüste geführt hat, so wie auch Jesus zeichenhafte 40 Tage durch die Wüste gewandert ist, wird durch den strahlenden Glanz deutlich, der auf allen drei Gesichtern ruht. Die Evangelisten Mat­thäus und Lukas betonen diesen Aspekt sogar noch stärker als Markus.

 

Mit gewaschenem Gesicht

 

Das Zweite Vatikanische Konzil greift die Lichtmetaphorik auf. Es lässt nicht nur das Gesicht Jesu, des Mose und Elijas erstrahlen, sondern auch das der Kirche. Christus, so beginnt die Kirchenkonstitution des Konzils, ist das Licht der Völker, das sich auf dem Antlitz der Kirche spiegelt.

Die Fastenzeit bietet Gelegenheit, dieses Gesicht, sei es das der Kirche als Gemeinschaft oder das jedes einzelnen Christen, der zu ihr gehört, zu waschen. Wo im Glauben die rechte Form zwischen Gesetz und Prophetie gesucht wird, dürfen wir hoffen, vom Licht der Verklärung angestrahlt zu werden, um in ihm uns selbst zu erkennen und dieses Licht in die Welt zu tragen.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 2. Fastensonntag (Lesejahr B) finden Sie hier.

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