Stefan Jürgens über ein empörendes Evangelium

Auslegung der Lesungen vom 24. Sonntag im Jahreskreis / Lesejahr A

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Die großen Fische werden laufen gelassen, die kleinen hinter Gitter gepackt. Der Vorwurf klingt ziemlich modern. Steht aber im Evangelium dieses Sonntags. Warum er von einem "empörenden Evangelium" spricht, erklärt Pfarrer Stefan Jürgens in seiner Auslegung. Und warum es mal wieder anders ist, wenn man genau hinsieht.

Jetzt reicht es. Das brauche ich mir nicht gefallen zu lassen. Mit dir bin ich fertig. Das zahle ich dir heim. Warte nur, das wirst du mir büßen. Dir werde ich es zeigen.“ Solche Sprüche sind Gott sei Dank selten. Aber sie kommen vor. Meistens sagen wir: Ich bitte um Entschuldigung, es tut mir leid. Wem es schwerfällt, der sagt vielleicht: Ich vergebe dir, aber vergessen werde ich dir das nie. Wenn aber jemand ganz tief getroffen und verwundet ist, wenn sich jemand total gedemütigt fühlt: Kann der die Hand zur Versöhnung reichen?

„Wie oft muss ich meinem Bruder vergeben?“, fragt Petrus. „Bis zu siebenmal?“ Die Antwort Jesu setzt Maßstäbe, sie geht über das Zählbare hinaus, hinein ins Unendliche: „Nicht bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal.“ Im Ersten Testament hieß es noch: „Wird Kain siebenmal gerächt, so Lamech siebenundsiebzigmal“ (Gen 4,23): „Wie du mir, so ich dir!“ Jesus steigt aus der Rache aus und durchbricht die Spirale der Gewalt. Scheinbar jedoch ist die Vergebungsbereitschaft Jesu an eine Bedingung geknüpft, nämlich an die Vergebung untereinander: „Ebenso wird mein himmlischer Vater euch behandeln, wenn nicht jeder seinem Bruder von Herzen vergibt.“ Gott sei Dank nur scheinbar! Denn die Pointe ist eine andere.

Ins Gefängnis wegen quasi nichts

Die Lesungen vom 24. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A) zum Hören finden Sie hier.

Wegen lumpiger einhundert Denare lässt der eine Knecht seinen Mitknecht ins Gefängnis werfen. Und dabei wurden ihm selbst zehntausend Talente geschenkt. In unsere Währung und Kaufkraft übersetzt wird der Unterschied deutlich: Einhundert Denare, das wären heute vielleicht fünfunddreißig Euro. Zehntausend Talente jedoch wären etwa zwanzig Millionen Euro. Wer auf sein eigenes kleines Recht pocht, riskiert ein großes Unrecht.

Als Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht ist das Sonntagsevangelium empörend. Als Gleichnis von der Vergebungsbereitschaft Gottes ist es geradezu unglaublich. Gott erwartet weder Schuldlosigkeit noch Perfektion, sondern dass wir einander vergeben. Bei Gott gilt Gnade vor Recht, bei ihm ist keine Schuld zu groß. Den beiden Knechten wird alles erlassen, und zwar aus Mitleid. „Hab Geduld mit mir“, so flehen beide Knechte um Gnade.

Auf den ersten Blick also ist Gottes Vergebung an eine Bedingung geknüpft. Es scheint so, als würde er nur dann vergeben, wenn wir das auch tun. Und zwar in dieser Reihenfolge: Zuerst wir, dann er. Jeden Tag beten Christinnen und Christen: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Auch dies kann man missverstehen, so als sei zuerst unsere Vergebung dran, bevor Gott gnädig sein will. Im Vaterunser ist es gerade andersherum gemeint: Weil Gott uns längst vergeben hat, können und müssen wir vergeben. Seine Gnade kommt zuerst, die Initiative liegt bei ihm. „Gott hat uns zuerst geliebt“, formuliert es der erste Johannesbrief (1 Joh 4,19).

Unverdiente Gnade

Der Autor:
Stefan Jürgens ist Pfarrer in St. Mariä Himmelfahrt, Ahaus und Alstätte. | Foto: Christof Haverkamp
Stefan Jürgens ist Leitender Pfarrer in Ahaus. | Foto: Christof Haverkamp

So auch im Gleichnis von der Vergebungsbereitschaft Gottes. Als Christin oder Christ darf ich mich begreifen als jemand, dem Gott bereits alles vergeben hat. Ich darf mich mit dem Knecht identifizieren, dem zehntausend Talente erlassen worden sind. Demgegenüber kann das, was man mir schuldet, nicht der Rede wert sein. Wenn ich mir dieser unverdienten Gnade bewusst werde, kann ich gar nicht anders, als ebenso barmherzig zu sein.

Gottes Gnade ist umsonst, aber nicht vergeblich. Sie macht mir deutlich, dass ich in einer ganz anderen Schuld stehe: Weil mir bereits vergeben worden ist im Namen Jesu Christi, darf mir das Vergeben leichtfallen. Die Vergebung ist eine Gabe, die mir zur Aufgabe wird. Sie ist bedingungs-, aber sie kann nicht folgenlos bleiben. Nur wer Liebe erfahren hat, kann lieben. Die Erfahrung bedingungsloser und leistungsfreier Vergebung macht barmherzig miteinander.

Wir sind Schuldner Gottes

„Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen“, das gilt für jede und jeden von uns. Wir sind die Schuldner Gottes! Die Erfahrung von Vergebung und Erlösung jedoch führt uns in eine Freiheit, die wir weitergeben können, ohne dabei etwas zu verlieren. Wer die Liebe Gottes erkannt hat, wird grenzenlos verzeihen.

Davon spricht bereits die Erste Lesung: Wer im Zorn verharrt, wird niemals lieben lernen. Wer eine bloß ausgleichende Gerechtigkeit fordert, wird selbstgerecht und will eigentlich Rache. Ein solcher Mensch wird bitter, er wird niemals Heilung erfahren. Auch Paulus pocht nicht darauf, wer Recht hat. Die Verbindung mit Christus und die Einheit der Gemeinde sind ihm wichtiger: „Wir gehören dem Herrn.“

Sämtliche Texte der Lesungen vom 24. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A) finden Sie hier.

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