Stefan Böntert: Gott ist kein Buchhalter

Auslegung der Lesungen vom 25. Sonntag im Jahreskreis / Lesejahr A

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In dem Gleichnis des Gutsbesitzers zeichnet Jesus ein Gottesbild, das sich nicht allein durch gerechtes Handeln auszeichnet. Vielmehr braucht Gerechtigkeit auch immer Barmherzigkeit an die Seite gestellt, sagt Stefan Böntert und legt die Lesungen dieses Sonntags aus.

Gerechtigkeit ist ein hohes Gut. In unserer Gegenwart, in der die Folgen der Inflation, die Klimakrise und viele andere schwierige gesellschaftliche Herausforderungen bewältigt werden müssen, ist der Ruf nach Gerechtigkeit besonders laut. Aus gutem Grund fordern Menschen entschlossen ihre Rechte ein, wenn sie den Eindruck haben, benachteiligt zu sein. Die persönliche Zufriedenheit der Einzelnen hängt in großen Teilen davon ab, ob es gerecht zugeht.

Auch der Zusammenhalt unserer Gesellschaft lebt davon, dass alle zu ihrem Recht kommen. Es ist die Aufgabe der politischen Parteien, durch intelligente Ideen für ein gerechtes Miteinander und einen Ausgleich der Interessen zu sorgen, damit der soziale Frieden gewahrt bleibt.

Selbstverständliches wird infrage gestellt

Für eine solche Denkweise muss das Verhalten des Gutsbesitzers im Gleichnis Jesu wie eine Provokation wirken. Wie er mit seinen Arbeitern umgeht, ist zutiefst ungerecht! Wer den ganzen Tag geschuftet und die Hitze ertragen hat, hat doch mehr Lohn verdient als jemand, der nur eine Stunde gearbeitet hat! Wer kann es den Arbeitern verdenken, wenn sie dem Weinbergbesitzer schwere Vorwürfe machen: „Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet und du hast sie uns gleichgestellt.“

Was der Gutsbesitzer tut, stellt das gesunde Gerechtigkeitsempfinden auf den Kopf. Deshalb ist es leicht nachvollziehbar, dass sich die Arbeiter gegen dieses Verhalten wehren. Die Jünger, denen Jesus das Gleichnis erzählt hat, haben das wahrscheinlich genauso gesehen.

Gottes Gerechtigkeit ist anders

Die Lesungen vom 25. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A) zum Hören finden Sie hier.

Es wäre ein großes Missverständnis, aus dieser Geschichte praktische Anweisungen für die Verteilung von Geld in der Arbeitswelt abzuleiten. Um den Sinn zu verstehen, muss man genau hinhören, wie Jesus das Gleichnis einleitet: „Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Gutsbesitzer […]“. Wie auch an anderen Stellen in den Evangelien benutzt Jesus hier eine Geschichte, um eine wichtige Eigenschaft Gottes zu beschreiben.

Er zeichnet darin ein Gottesbild, das in scharfem Gegensatz zu den üblichen Vorstellungen von gerechten Verhältnissen steht, aber dennoch einen faszinierenden Gedanken zum Ausdruck bringt: Gott ist kein Buchhalter, der mit spitzem Bleistift in der Hand zuerst danach fragt, was ein Mensch verdient oder was ihm zusteht. Vielmehr stellt er der Gerechtigkeit die Barmherzigkeit an die Seite. Gott hält selbst dann von einem Menschen große Stücke, wenn dieser es nach Recht und Gesetz eigentlich nicht verdient hat. Kleinkariertes Aufrechnen und Zuteilen ist ihm fremd.

Gott hat ein weites Herz, in diesem Sinne kann auch das Wort des Propheten Jesaja aus der ersten Lesung verstanden werden: „Gott ist groß im Verzeihen“ (Jes 55,7). Wie barmherzig Gott ist, zeigt sich besonders eindrucksvoll darin, wie Jesus auf die Menschen seiner Zeit zugegangen ist. Wäre er nur dem Gesetz des Aufrechnens gefolgt, hätte er sich wohl kaum mit Sündern an einen Tisch gesetzt. Jesus verkündet einen Gott, der zwar gerecht ist, aber zugleich immer auch mit großer Barmherzigkeit auf die Menschen schaut und die Türen offen hält für alle, die ihn ernsthaft suchen.

Gerechtigkeit braucht immer auch Barmherzigkeit

Der Autor:
Stefan Böntert ist Professor am Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft der Universität Bochum. | Foto: RUB, Marquard
Stefan Böntert ist Professor am Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft der Universität Bochum. | Foto: RUB, Marquard

Es lohnt sich, dieses Gleichnis vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen zu lesen, denn es kann mit seiner Botschaft auch zu einem politischen Kompass werden. Zweifellos ist Gerechtigkeit ein hohes Gut, aber sie hat auch eine bedrohliche Seite. Denn eine Gesellschaft, die die Gerechtigkeit zum alles bestimmenden Maßstab des Handelns macht, ist kalt und im schlimms­ten Fall sogar grausam. Wer nur gerecht sein will, kann schnell vergessen, was unsere Zeit so dringend braucht: Mitgefühl und Sorge füreinander, Aufmerksamkeit für Notleidende, Verantwortung für die Schöpfung, damit auch künftige Generationen gute Lebensgrundlagen haben.

Auf einen kurzen Nenner gebracht: Gerechtigkeit braucht immer auch die Barmherzigkeit. Also die Bereitschaft, anzupacken, wo Hilfe nötig ist. Ohne ständig danach zu fragen, was einem Menschen nach geltender Ordnung zusteht. Auf die richtige Dosierung, die richtige Balance zwischen gerecht und barmherzig kommt es an, wenn unsere Gesellschaft zukunftsfähig und menschlich zugleich sein soll.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 25. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A) finden Sie hier.

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