Stefan Jürgens: Gnade versus kleinkarierte Gesetze

Auslegung der Lesungen vom 23. Sonntag im Jahreskreis / Lesejahr A

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Sünde ist keine Privatsache, aber wie geht die Gemeinde mit Sündern um? Sie sollen Barmherzigkeit erfahren, sagt Gott selbst, erklärt Pfarrer Stefan Jürgens und legt die Lesungen dieses Sonntags aus.

„Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Das klingt beinahe romantisch, wie eine Idylle aus vergangenen Pfarrfamilien-Zeiten oder wie ein billiger Trost für zurzeit immer weniger werdende Gottesdienst-Mitfeiernde. Als Kanon gesungen gehört der Satz zum musikalischen Grundrepertoire von Gemeinde, Kindergarten und Schule.

Der Spruch ist aber weder Idylle noch Trost. Es geht vielmehr um die Frage, wie die Gemeinde mit Sündern umgehen soll. Die Verse des Sonntagsevangeliums stammen nicht von Jesus, sondern stellen eine nachösterliche „Hausordnung“ dar. Jesus, den man einen „Freund von Zöllnern und Sündern“ nannte, hätte niemals gesagt, ein unbußfertiger Sünder soll „wie ein Heide oder ein Zöllner“ ausgeschlossen werden. Vielmehr behandeln die von Matthäus zusammengestellten Verse Probleme der jungen Gemeinde.

Verantwortung für Glaubensgeschwister übernehmen

Die Lesungen vom 23. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A) zum Hören finden Sie hier.

Sünde ist keine Privatsache, denn sie macht die Gemeinde als Ganze unglaubwürdig. Es geht also um die Verantwortung der Gemeinde für Glaubensgeschwister, die Probleme haben. Die Lösung, die Matthäus, der für Judenchristen schreibt, vorschlägt, stammt aus dem Judentum. Es ist die sogenannte Zeugenregel: Ein Sünder soll zunächst unter vier Augen, dann vor Zeugen und dann erst vor der Gemeinde befragt und gegebenenfalls zurechtgewiesen werden.

Das ist klug und menschlich. „Unter vier Augen“ bedeutet, geschwisterlich und gütig miteinander zu sprechen statt hinterrücks. Auch im Alltag einer christlichen Gemeinde scheint manchmal zu gelten: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da ist der vierte zwischen ihren Zähnen.“ Man redet schlecht übereinander statt wertschätzend miteinander. „Vor Zeugen“ ist dann oft gar nicht mehr nötig, nur Querulanten bedürfen einer solchen offenen Runde.

Gesetze sollen Zusammenleben erleichtern

Schließlich soll der Sünder „vor der Gemeinde“ Rechenschaft ablegen. Hier geht es um einen seelsorglichen Ernst und das Selbstverständnis der Gemeinde in der Nachfolge Jesu Christi.

Nach Matthäus hat Jesus zunächst den Aposteln (Kap. 16) und dann der Gemeinde (Kap. 18) die Vollmacht gegeben, zu binden und zu lösen. Dies stammt, wie die Zeugenregel, aus dem Judentum. Die Rabbiner hatten die Vollmacht, Gesetze und Regeln so anzupassen, dass sie den Menschen dienlich sind und das Zusammenleben erleichtern. Sie sollten den Menschen nicht zur Last werden, sondern weiterhelfen. Tatsächlich wurden Gesetze und Regeln häufig nicht den Menschen angepasst, sondern aus Angst vor Gott immer weiter verschärft. Herausgekommen ist dabei jene kleinkarierte Gesetzlichkeit, der Paulus die gesetzesfreie Gnade entgegensetzt, also die bedingungslose und leistungsfreie Erlösung. 

Es braucht eine lebendige Gemeinde

Der Autor
Stefan JürgensStefan Jürgens ist Pfarrer in St. Mariä Himmelfahrt, Ahaus und Alstätte. | Foto: Christof Haverkamp

Wer ist diese Gemeinde heute? Etwa die Gottesdienstgemeinde, die je nach Anlass ständig wechselt? Oder die Leitungsgremien der Pfarrei? Das Seelsorgeteam oder gar die Amtskirche?

Zurzeit lässt sich beobachten: Je weniger die Gemeinde präsent ist, desto mehr wird von der Amtskirche festgelegt oder verhindert. So wurde der Synodale Weg erwartungsgemäß zur römischen Sackgasse. Nach Matthäus meint das Wort „Ekklesia“ eindeutig die Ortsgemeinde und nicht die Gesamtkirche. Ein Ausweg wäre deshalb, dass eine lebendige Gemeinde sich an das Wort Jesu hält und ihre Angelegenheiten bis in die Lehre hinein selbst regelt. In einer Freiheit, die sich als Verantwortung füreinander äußert. Dann wäre spürbar: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“

Sünder sollen Barmherzigkeit erfahren

Die erste Lesung spricht von einem Propheten, der Menschensohn genannt wird. Er hat ein Wächteramt inne, eine Verantwortung für die ganze Gemeinschaft. Er soll den Sünder zur Umkehr bewegen. Man kann unschwer erkennen, dass diese Stelle des Ersten Testaments wie an jedem Sonntag im Hinblick auf das Evangelium ausgewählt worden ist.

Paulus stellt sich in der Zweiten Lesung hinter die Gebote des Bundes. Sie sind nicht aufgehoben. Ihre Einhaltung ist aber nicht Bedingung, sondern Konsequenz erlösten Christseins. Christinnen und Christen tun das Gute nicht, um dadurch Gott zu gefallen oder in den Himmel zu kommen. Sondern allein deshalb, weil Gott ihnen in Christus eine Liebe gezeigt hat, die zur Antwort ruft. Gott liebt uns nicht, weil wir gut sind, sondern weil er gut ist. Diese Liebe schließt die Sünder ausdrücklich ein. Sie sollen Barmherzigkeit erfahren – im Vieraugengespräch, vor Zeugen und mithilfe einer verantwortungsbewussten Gemeinde.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 23. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A) finden Sie hier.

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