Katharina Karl: Will Jesus, dass wir alles zurücklassen und weggeben?

Auslegung der Lesungen vom 28. Sonntag im Jahreskreis / Lesejahr B

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„Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“ - „Verkaufe alles, was du hast, und folge mir nach.“ Bei dieser Antwort Jesu zuckt womöglich nicht nur der Fragesteller zusammen. Doch geht es Jesus wirklich darum, arm und mittellos zu leben? Schriftauslegung von Katharina Karl.

Alles zurücklassen, alles verlieren. Bei diesen Worten drängen sich die erschütternden Bilder der Menschen in den Trümmern ihrer Wohnungen auf, deren Hab und Gut von den Fluten im Westen Deutschlands zerstört wurde. Oder der Tausenden, die aus Afghanistan fliehen und alles dort zurücklassen, was ihnen wichtig ist. Kirchliche Organisationen versuchen, den Menschen zu helfen, eine Grundlage zum Leben (wieder) aufzubauen.

Was bedeutet "Alles zurücklassen, alles weggeben" als Motto für die Nachfolge Jesu? Arm und mittellos zu leben, kann an sich nie erstrebenswert sein. Dann würde das leibliche Wohl gegen eine spiritualisierte Wirklichkeit ausgespielt. Das widerspräche den Prinzipien christlicher Caritas und einem ganzheitlichen Verständnis vom Menschsein.

 

Es geht um Liebe

 

Die Lesungen vom 28. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B) zum Hören finden Sie hier.

Es muss Jesus um etwas Anderes gehen, wenn er zum jungen Mann sagt: „Verkaufe alles, was du hast, und folge mir nach.“ Der Punkt, um den sich alles dreht, ist die Liebe.

Es gibt Momente im Leben, wo die Liebe ruft und es auf einmal um alles geht, „sind ihre Wege auch steil“, wie es in einem Gedicht des libanesisch-amerikanischen Künstlers und Philosophen Khalil Gibran heißt. Es gibt Momente, die herausfordern, in aller Freiheit zu antworten. Um einer Beziehung willen etwa in einer anderen Kultur zu leben, um eines kranken Kindes willen das ganze Leben umzukrempeln - das ist noch etwas Anderes als "nur" Gutes zu tun, rechtschaffen zu leben oder Verzicht zu üben.

 

Liebe ohne Maß

 

Es gibt kein rechtes Maß, kein Richtig oder Falsch für die Liebe, weil sie sich schwer messen lässt. Sie ist immer geschenkt, immer frei und eben ohne Maß.

Vielleicht war es das, was der junge Mann in unserer Schriftstelle so schwer aushalten konnte. Er wollte eine klare, vernünftige Ansage auf die Frage „Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?“, und findet dann heraus, dass er eigentlich alles schon befolgt und doch traurig bleibt.

 

Rettung ist Gottes Aufgabe

 

Der folgende Satz berührt und irritiert mich immer aufs Neue, wenn ich diese Perikope lese. Denn Jesus schaut den Mann nachdenklich an, in der alten Einheitsübersetzung heißt es „weil er ihn liebte“. Der Punkt, um den sich alles dreht, ist die Liebe – die Liebe Gottes, die den jungen Mann in Jesus anspricht. Weil er ihn liebt, nicht, weil alles noch nicht genug ist, schlägt Jesus dem jungen Mann vor, seinen Besitz zu verkaufen und das Geld den Armen zu geben.

Weil Gott den Menschen liebt, so verrät Jesus seinen Jüngern später, ist das Unmäßige, das darin liegt, den eigenen Besitz aufzugeben, auch nicht für die Menschen möglich, sondern nur für Gott. Der junge Mann geht traurig weg, aber er hat das ewige Leben nicht verspielt, denn dass Menschen gerettet werden, ist Sache und Möglichkeit Gottes.

 

Spüren, wo Liebe notwendig ist

 

Die Autorin
Prof. Dr. Katharina Karl

Katharina Karl war bis 2020 Professorin für Pastoraltheologie an der PTH Münster, seitdem wirkt sie in Eichstätt-Ingolstadt. | Foto: privat

Es geht also nicht darum, Forderungen zu erfüllen oder sich Gottes Gunst zu erwerben. Sondern darum zu erspüren, wo die Liebe sich regt, wo andere, die „Armen“, Zuwendung welcher Art auch immer von uns nötig hätten, oder wo wir traurig bleiben, weil wir irgendwo festhängen und nicht das geben, was wir geben könnten.

In das Paradox des Liebens hineinzufinden, das ist Teil unserer Lebensaufgabe und Teil christlicher Nachfolge. Nachfolge bedeutet nicht die Abkehr von allem Irdischen, sondern es geht um das Ziel, die Menschen als Teil alles Geschaffenen zu verstehen und die Schöpfung zu retten.

 

Liebe heißt auch Verantwortung

 

Der Philosoph Bruno Latour sagte kürzlich in einem Vortrag in Bezug auf den Klimawandel und die dadurch bedingte Bedrohung für die Erde: „Was nutzt es dem Menschen, wenn er seine Seele gewinnt und die Welt verliert?“ Im Anschluss an diesen Gedanken erhalten Askese und Verzicht eine neue Bedeutung. Sie sind notwendig nicht (nur) für das eigene Seelenheil, sondern zum Erhalt und zur Rettung der Schöpfung.

Das war nicht das Thema in der Begegnung von Jesus und dem jungen Mann, aber es ist ein dringliches Thema heute und daher eine neue Lesart der Perikope. Liebe heißt auch, Verantwortung für die Welt zu übernehmen und Konsum einzuschränken – auf persönlicher wie auf gesellschaftlicher Ebene. Liebe stärkt die Motivation, vom eigenen Vorteil abzusehen und den Lebensstil konsequent neu auszurichten.

Aktuell ist offensichtlich, wie schwer das fällt. Die Frage „Wer kann da gerettet werden?“ erscheint hier in einem neuen Licht. Für Menschen scheint das unmöglich, aber Gott gibt seine Welt so schnell nicht auf.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 28. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B) finden Sie hier.

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