Pater Ralph Greis OSB aus der Abtei Gerleve: Von der Angst in die Weite

Auslegung der Lesungen vom 6. Sonntag der Osterzeit (Lesejahr B)

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Am vorletzten Sonntag der Osterzeit führt das Evangelium noch einmal an den letzten Abend zurück, den Jesus mit seinen Jüngern verbringt. Es führt in das Obergemach eines Hauses in Jerusalem - jenen Ort, der auch für Ostern und Pfingsten bedeutsam ist. Warum, erläutert Pater Ralph Greis OSB von der Abtei Gerleve ins einer Schriftauslegung.

Das Evangelium dieses Sonntags schließt direkt an das des vergangenen an. Jesus führt das Bild vom Weinstock und den Reben weiter: „Liebt einander, so wie ich euch geliebt habe.“ Es ist jene Liebe, die der Weinstock den Reben erweist, denen er Halt, Nahrung und Fruchtbarkeit gibt, die er zu ihrer ursprünglichen Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit veredeln will.

Mit dem Evangelium befinden wir uns im Obergemach, am Abend des Gründonnerstags, in den sogenannten Abschiedsreden Jesu. Sie folgen im Johannes-Evangelium auf das Mahl und die Fußwaschung im Kapitel 13, bis mit Kapitel 18 der Weg hinaus zum Garten Gethsemani und in die Nacht des Karfreitags führt.

 

Ein besonderer Abend

 

Die Lesungen vom 6. Sonntag der Osterzeit (Lesejahr B) zum Hören finden Sie hier.

„Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.“ – Das ist es, was der Herr selbst am folgenden Tag tun wird, und ausdrücklich spricht er seine Jünger als seine Freunde an. Die werden die Tragweite seiner Worte an diesem Abend jedoch kaum verstanden haben.

Sie sind zum Pessachfest in Jerusalem und wahrscheinlich in bester Stimmung, haben gut gegessen und einige Gläser Wein getrunken. Gleich werden sie einen Abendspaziergang durchs Kidrontal machen und in Gethsemani entspannt einschlafen, während der Herr betet. Mit der Verhaftung, dem Prozess und der Hinrichtung ihres Meisters haben sie gewiss nicht gerechnet.

 

Im Obergemach - ein besonderer Ort

 

Nach seinem Tod schließen sie sich voller Angst im nämlichen Obergemach ein. Hier, am Ort erst des frohen Feierns und dann des bodenlosen Entsetzens wird der Auferstandene in ihre Mitte treten und ihnen den Frieden wünschen. Erst nach Ostern werden die Jünger allmählich verstehen, worum es Jesus geht, wer er wirklich ist. Sie brauchen ihre Zeit, bis es bei ihnen ankommt, dass er nicht der politische Messias ist, auf den viele gewartet haben, dass das Reich Gottes, das er verkündet hat, anders ist und sehr viel weiter reicht, als sie es sich vielleicht ausgemalt haben. Dass Freundschaft, Liebe und Hingabe mit dem Herrn eine ganz neue Dimension bekommen.

So lernen sie auch, was ihr eigener apostolischer Auftrag sein wird: „Wahrhaftig, jetzt begreife ich …“, sagt Petrus beim römischen Hauptmann Kornelius, der sich in der ersten Lesung aus der Apostelgeschichte als einer der ersten „Heiden“ zum Glauben an Christus bekennt. Es ist ein dauerhafter Lernprozess, sich in die weite Perspektive Gottes hineinzustellen, dessen Liebe allen gilt, nicht nur einem engen Kreis von Auserwählten.

 

In die Pflicht genommen

 

Der Autor
Pater Ralph Greis.
Ralph Greis ist Mönch der Benediktinerabtei Gerleve. | Foto: privat

Gott selbst nimmt die Menschen dazu in seinen Dienst: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt.“ Auf dem Friedhof meiner Heimatstadt steht dieser Vers auf der Priestergruft, die ich als Zivildienstleistender einmal zu pflegen hatte.

Dieses Wort Jesu, diese Berufung gilt jedoch allen Getauften, in all den verschiedenen Lebensformen, die eine lebendige Kirche ausmachen. Es gilt allen, die ihr Leben in Christus als dem wahren Weinstock verwurzeln, die es ihm zutrauen, dass ihr Leben dadurch fruchtbar und froh wird, die Christi Liebe annehmen und weiterschenken. Die Sprache des Johannes-Evangeliums weht manchmal wie eine flüchtige verbale Weihrauchwolke an meinem Ohr vorbei.

Gerade das aber lädt mich ein, genauer zu lesen, hinzuhören. Dann entfalten sich viele verschiedene Nuancen, wie bei einem guten Wein, für den es Zeit und das rechte Maß braucht. Der Evangelist Johannes hat sich ganz am Weinstock Jesu verwurzelt. Seine Frucht können wir noch immer genießen.

 

Offene Türen nach Pfingsten

 

Der Ort des Osterzeit ist das Obergemach – hierher kehren die Jüngerinnen und Jünger gemeinsam mit der Mutter Jesu nach der Himmelfahrt des Herrn zurück, hier sieht die Tradition auch den Ort der Geistsendung an Pfingsten. Danach werden die zuvor angstvoll verschlossenen Türen weit geöffnet sein, wird das Evangelium seinen Weg in die Welt hinaus beginnen. Zugleich bleibt das Obergemach Ort der Sammlung für die erste Chris­tengemeinde.

Wenn wir uns zurückziehen, um die Heilige Schrift zu lesen und mit ihr zu beten, betreten wir unser eigenes, stilles Obergemach, und der Auferstandene ist bei uns. Wenn wir uns mit den Schwestern und Brüdern zum Gottesdienst versammeln, tritt er in unsere Mitte und wünscht uns den Frieden. Er nennt uns nicht mehr Knechte, sondern seine Freunde und trägt uns auf: „Liebt einander!“

Sämtliche Texte der Lesungen vom 6. Sonntag der Osterzeit (Lesejahr B) finden Sie hier.

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