Eine Serie von Pfarrer Stefan Jürgens

Die kleine Gebetsschule (30): Das Vaterunser – wie es besser nicht geht

Wegen der Corona-Krise gibt es derzeit keine öffentlichen Gottesdienste. Pfarrer Stefan Jürgens aus Ahaus lädt deshalb zu einer kleinen Gebetsschule für zu Hause ein. Jeden Morgen ab 7.30 Uhr. Heute mit Teil 30.

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Wegen der Corona-Krise gibt es derzeit keine öffentlichen Gottesdienste. Pfarrer Stefan Jürgens aus Ahaus lädt deshalb zu einer kleinen Gebetsschule für zu Hause ein. Die Impulse bauen aufeinander auf. „Das persönliche Gebet ist mir ein Herzensanliegen“, sagt Jürgens. Viele hätten jetzt Zeit dafür. Jeden Morgen ab 7.30 Uhr gibt es an dieser Stelle eine neue Folge seiner "kleinen Gebetsschule".

Das Vaterunser ist das Gebet der ganzen Christenheit. Jesus hat es Seine Jünger gelehrt, als sie Ihn darum baten: „Herr, lehre uns beten“ (Lukas 11,1). Ich selbst habe dieses Gebet nicht aus der Bibel gelernt, sondern meinen Eltern von den Lippen abgelesen. Zuerst habe ich nur die Laute imitiert. Ich durfte spüren: Das ist etwas Wichtiges, Heiliges. Irgendwann konnte ich es auch mit dem Herzen beten. Aber zuerst konnte es mein Mund.

Meine Glaubenssprache ist also auf mich zugekommen, ich musste meinen Glauben und das Gebet nicht erst erfinden. Ich stelle mich mit dem Vaterunser und mit vielen anderen Gebeten in eine Erfahrung hinein, die immer größer ist als mein eigener kleiner Glaube. Ich bekomme Anteil an den Glaubenserfahrungen der Generationen vor mir, ja der ganzen Kirche.

 

Menschenwürde und Gottesehre

 

Pfarrer Stefan Jürgens.
Pfarrer Stefan Jürgens (51) ist Pfarrer in Ahaus. Bekannt geworden ist er auch als Buch-Autor, vor allem durch sein jüngstes Buch "Ausgeheuchelt". | Foto: Christof Haverkamp

Das Vaterunser habe ich schon viele tausend Mal gebetet. Und doch entdecke ich darin immer wieder etwas Neues.

„Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name“: Wenn Gott Vater ist, dann bin ich Sein Kind, dann sind wir untereinander Geschwister. Wenn ich um diese Menschenwürde weiß und danach lebe, dann wird Sein Name geheiligt, dann wird dieser Name „Unser Vater“ für Menschen erst glaubwürdig und überzeugend. „Dein Reich komme, Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden“: Wenn Sein Wille geschieht – wenn ich so lebe, dass es Seiner Absicht entspricht – dann kommt Sein Reich, heute und hier. „Unser tägliches Brot gib uns heute“: Ich darf um alles bitten, was jeder jeden Tag braucht, so nötig wie das tägliche Brot. Aber zum Lückenbüßer, zum Erfüllungsgehilfen meiner persönlichen Wünsche darf ich Ihn nicht machen. „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“: Gott vergibt immer zuerst, ohne Bedingung und Vorleistung. Aber ich kann Seine Vergebung nur dann glaubhaft erfahren, wenn ich selber Vergebung zu schenken bereit bin. Wer immer nur kleinkariert jeden Fehler der anderen nachhält, wer niemals großzügig ist, der kann auch nicht an einen großzügigen Gott glauben.

 

Eine sperrige Bitte

 

„Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“ Mit dieser Vaterunser-Bitte bin ich lange nicht klargekommen: Kann denn Gott in Versuchung führen? Nein, das wird Er nicht tun. Aber ein Gebet spricht ja immer aus der Sicht des Menschen, nicht aus der Sicht Gottes. Tatsächlich, es gibt ja eine Versuchung für die Frommen, eine doppelte Versuchung für die Glaubenden: Fanatismus und Fatalismus.

Dem Fanatismus begegne ich häufig in den Nachrichten, wenn ich von religiösem Terrorismus höre. Da sind Menschen, die meinen alles genau zu wissen; sie identifizieren sich so sehr mit dem, den sie für ihren Gott halten, dass sie sich ganz auf Seiner Seite glauben – auch dann noch, wenn sie über Leichen gehen. Weil sie ja genau wissen, wer Gott ist und was Er will, meinen sie, Gott wolle genau das, was sie selbst für richtig halten. Letzten Endes machen sie sich damit selbst zu Gott, und das ist die Ur-Versuchung, die Ur-Sünde. Solche Fanatiker gibt es in allen Religionen – hartherzige Besserwisser, religiöse Terroristen mit oder ohne Waffen.

 

Fromme Christen, faule Christen

 

Die andere Seite der frommen Versuchung heißt Fatalismus – und der ist hierzulande viel öfter anzutreffen und für uns auch viel gefährlicher. Der Fatalist denkt, er könne ja doch nichts machen; er wäscht seine Hände in Unschuld und überlässt Gott die Welt, Ihm ganz allein. Er denkt: „Wenn Gott die Welt anders haben wollte, dann hätte Er sie bestimmt anders gemacht.“ Oder: „Wenn Er sie anders will, dann soll Er sie doch selber ändern.“

Verborgene Fatalisten gibt es unter den Christen reichlich. Sie reden fromm, aber eigentlich sind sie viel zu faul, sich die Hände schmutzig zu machen und wirklich etwas zu tun. Am wenigsten ändern sie sich selbst. Sie spüren nicht, dass die Gegenwart immer der Zeitpunkt ist, Gottes Namen zu heiligen, Sein Reich Wirklichkeit werden zu lassen, nach Seinem Willen zu fragen, miteinander das Brot zu teilen und einander zu vergeben. Verborgener Fatalismus tritt häufig als Gleichgültigkeit auf, die sich in frommes Gerede hüllt, ein Hoch auf Religion und Tradition anstimmt, aber tiefgreifend nichts verändert. Vor solchen Versuchungen bewahre uns Gott!

 

Ich bekomme mein Leben nicht fertig

 

Am Schluss gibt mir das Vaterunser dann doch viel Gelassenheit. Denn nur Gott wird uns letzten Endes vom Bösen befreien: „sondern erlöse uns von dem Bösen“. Ich kann viel dafür tun, dass Sein Reich kommt. Aber aufrichten muss Er es selbst. Mein Leben bleibt zeitlebens unvollendet, ich bekomme es einfach nicht fertig; von mir aus wird es niemals so gut werden, dass Er etwas damit anfangen kann.

Da gibt es viel gerade zu rücken, zurecht zu richten, zu ergänzen. Aber ich bin mir sicher: Gott wird es vollenden. Er wird das Böse ein für allemal aus der Welt schaffen. Dafür steht der Name Jesus Christus, mit dem Sein Reich schon angebrochen ist: Es ist „schon“ da, aber „noch nicht vollendet“. Wie Gottes Reich einmal aussehen wird, das liegt vor allem an Ihm – aber auch an mir!

Bis morgen!
Stefan Jürgens

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