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Was geschieht in einer Stunde? Die Reporter von "Kirche-und-Leben.de" haben 60 Minuten lang hingeschaut, begleitet, zugehört. Und aufgeschrieben. Mehr nicht. An vier Orten im Bistum Münster, an denen Kirche auf ganz unterschiedliche Weise konkret wird. Heute im Treffpunkt an der Clemenskirche für Obdachlose und Menschen in prekären Lebenssituationen. Mitten in der Innenstadt kommen Gäste auf extremen Lebenswegen zusammen.
Die Wassermelone geht heute besonders gut. Fast jeder Gast legt sich ein Stück neben das Brötchen auf den Teller. Müsli gibt es auch und natürlich Kaffee und Tee. Der Frühstückstisch im Treffpunkt an der Clemenskirche ist wie immer pünktlich gedeckt.
Dafür haben die Helfer gesorgt, die schon seit zwei Stunden in der kleinen Küche aktiv sind. Wer an die Tische in den Kellerräumen des Angebots für Obdachlose und Menschen in sozialen Notlagen will, kommt automatisch bei ihnen vorbei. Nicht ohne begrüßt zu werden, nicht ohne beim Namen genannt zu werden, nicht ohne kurz darüber zu sprechen, wie es ihm geht und was gerade anliegt.
Im Gespräch gibt es nur Vornamen
Hans-Georg fragt, ob er noch ein Brötchen haben kann. Petra möchte den Rest vom Müsli. Auch nach Milch wird in der Küche gefragt. Hier gibt es nur Vornamen – kein „Herr“ oder „Frau“. Vielleicht weil alle wissen, dass die Lebensgeschichten hinter den Namen viel wichtiger sind.
Sie alle hier können von Ereignissen erzählen, die sie aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Krankheit, Trennung, Arbeitslosigkeit – wenn Familie, Freunde und Behörden nicht mehr helfen, kann der Weg ins gesellschaftliche Abseits kurz sein.
Der heilige Franziskus auf dem Büfett
„My love ist your love …“ Der Song von Withney Housten säuselt aus dem kleinen Radio auf der Anrichte im Speiseraum. Dort steht gerade Hans-Georg, um sich vom Teller unter der Figur des heiligen Franziskus noch ein Stück Melone zu holen.
Dass das Angebot in Trägerschaft der Alexianer einen religiösen Hintergrund hat, ist an vielen Stellen sichtbar: Das Kreuz an der Wand, das Bild vom letzten Abendmahl Jesu oder das Foto der seligen Schwester Euthymia von den Clemensschwestern, die vor 45 Jahren den Treff ins Leben riefen.
Viele Leben liefen lange "gut bürgerlich"
Hans-Georg wusste bis vor wenigen Jahren nichts vom Treffpunkt. Der 65-Jährige hat Jura studiert, als Rechtsbeistand gearbeitet und Satzungen aufgesetzt. Alles lief „gut bürgerlich“, sagt er. „Bis ich nach 40 Jahren wegen Eigenbedarfs aus meiner Wohnung geworfen wurde – seitdem herrscht Chaos in meinem Leben.“ Das er nicht wieder in den Griff bekam.
Vorbei die Zeiten, in denen er in der Bundesliga Schach spielte, in denen er Stadtmeister von Münster wurde und Schach-Trainer war. Jetzt kommt er mehrmals in der Woche in die Kellerräume gegenüber der Clemenskirche, frühstückt, liest Zeitung und beeindruckt die anderen immer wieder mit seinem umfangreichen Allgemeinwissen. „Und zum Frisör gehe ich hier, nächsten Montag ist er wieder hier – wird auch Zeit.“ Er wuschelt einmal durch seine wilden Haare.
Verschiedene Lebenswege führen in den Treffpunkt
Die Lebensgeschichte von Hans-Georg hat wenig gemeinsam mit den Lebensgeschichten der anderen. Sie sind so verschieden wie die Menschen hier. Die des jungen, hageren Manns, der sich nach einem kurzen Gruß mit seinem Rucksack für einen Kaffee an einen Seitentisch setzt. Die der älteren Dame, die niemanden kommentarlos an ihrem Tisch vorbeilässt und immer wieder von einem geschlossenen Obdachlosen-Angebot erzählt, das „viel besser war“. Ein anderer Gast erzählt vom Bühnen-Unfall Helene Fischers, von dem er gerade in der Zeitung gelesen hat, und verspricht ironisch, ihr „schreckliches Schicksal“ mit in sein Gebet zu nehmen.
20 Gäste kommen zum Frühstück, bis zu 40 zum Mittagessen. „Am Monatsanfang weniger, am Ende, wenn das Geld knapp wird, mehr“, sagt Matthias. Auch den festangestellten Leiter des Treffs sprechen alle nur mit dem Vornamen an.
Mehr als 30 Ehrenamtliche
Dem Theologen und Sozialarbeiter stehen zwei weitere hauptamtliche Kräfte zur Seite. Und mehr als 30 Ehrenamtliche. „Das hier ist auch ein Kristallisationspunkt für Menschen, die etwas Gutes tun wollen“, sagt er. Er meint die vielen Spender, die Kleidung, Lebensmittel und Camping-Artikel geben.
Auch den ehemaligen Besitzer einer münsterschen Buchhandlung, der jeden Samstag selbstgebackenen Kuchen „in großer Menge und perfekter Qualität“ liefert. Sowie die ehrenamtlichen Helfer, die schon frühmorgens die Brötchen belegen und Kaffee kochen, um nach dem Mittagessen schon alles für den nächsten Tag vorzubereiten.
Wertschätzung so wichtig wie der Kaffee
Diego Nunez ist einer von ihnen. Nachdem er die Frühstückstische abgeräumt hat, fegt er die Räume einmal durch. Er promoviert gerade in Jura und ist erst vor Kurzem zum Team gestoßen. Einmal in der Woche übernimmt er jetzt den Dienst. „Ich wollte immer schon etwas ehrenamtlich machen“, sagt er. „Die Herzlichkeit hier hat mich sofort begeistert.“
Wie zum Beweis kommt Besuch in die Küche. „Du musst Nunez sein – ich bin Claudia, und das ist Fenic“, stellt sich die Frau mit ihrem Mischlingshund vor. „Herzlich willkommen im Team.“
Die Psychologin ist im Treffpunkt angestellt. „Aber nicht als Therapeutin, sondern als Helferin für alles.“ Wenngleich sie genau weiß, wie therapeutisch die vielen Gespräche wirken, die sie mit den Gästen führt. „Für die Menschen hier ist die Zuwendung, das Gesehen-Werden, die Wertschätzung genauso wichtig wie das Brötchen und der Kaffee.“
Die Melodie des Lebens ist laut
Sie hört schöne und traurige Geschichten. Wenn sie in ihrem kleinen Kellerraum vor dem Computer sitzt, bildet sich oft eine Schlange von Wartenden. Nicht nur, um von ihr Hilfen organisiert zu bekommen und bei bürokratischen Fragen unterstützt zu werden. Sondern oft um „einfach nur zu quatschen“.
Claudia berichtet von dem jungen Mann mit Depressionen, der lange in den Treffpunkt kam, heute mit seiner Freundin zusammenwohnt und eine Ausbildung macht. „Leider sind solch positive Entwicklungen eher die Ausnahme.“ Bei vielen Gästen gehe es darum, „ihnen schöne Momente im Leben zu ermöglichen“. Nicht wenige kämen irgendwann einfach nicht wieder. Sie weiß, dass Drogenkonsum und Krankheiten die Lebenserwartung vieler Obdachloser verkürzen.
Matthias nennt diese Hintergründe die „Höhen und Tiefen in der Melodie des Treffpunkts an der Clemenskirche“. „Seitdem ich hier arbeite, ist es so, als hätte jemand in meinem Leben die Lautstärke aufgedreht.“ Die hellen Töne gehören für ihn genauso dazu wie der schwer hämmernde Bass. Die ganze Bandbreite der Lebensmusik hat hier ihren Platz.