In der St.-Joseph-Kirche in Münster feiern Gäste einer Tagespflege

Gottesdienst als Höhepunkt: Wenn Menschen mit Demenz emotional werden

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Gottesdienste bringen Menschen mit Demenz-Erkrankungen Erinnerungen und Emotionen – gerade in der Advents- und Weihnachtszeit. In der St.-Joseph-Kirche in Münster feiert eine Gruppe regelmäßig.

Der Weg durch die feuchtkalte Winterluft ist alles andere als angenehm. Trotzdem bricht die Gruppe aus dem Clemens-Wallrath-Haus in Münster zur nahe gelegenen St.-Joseph-Kirche auf. Die Gäste der Tagespflege für Menschen mit gerontopsychiatrischen Erkrankungen wollen den anstehenden Programmpunkt keinesfalls verpassen. Im Chorraum der großen Innenstadtkirche werden sie Gottesdienst feiern – eine adventliche Feier, die für die Menschen mit Demenz und Depressionen einen enorm wichtigen Halt bietet.

„Sie kehren damit in ihre Kindheit und Jugend zurück“, sagt Renate Querdel, die als Pflegekraft in der Einrichtung der Alexianer arbeitet. „An die Punkte ihres Lebens, die in den Erinnerungen noch stark präsent sind, auch und gerade emotional.“ Sie findet ein starkes Bild für die Situation ihrer Gäste: „Die neuen Bücher der Erinnerung in ihrem Regal fallen schnell heraus, die alten Bücher dagegen stehen fest darin.“

Vergessene Gefühle kommen hoch

Gerade religiöse Ereignisse gehören zu diesen alten Büchern. „In ihren frühen Jahren war das kirchliche Leben ein zentraler Bestandteil des Alltags“, sagt Werdel. „In den Festtagen, in den Liedern und in den Gebeten finden sie schnell Berührungspunkte zu ihren Erlebnissen von damals.“ Die waren und sind nicht selten sehr emotional, besonders in so geprägten Zeiten wie im Advent oder zu Weihnachten. „Auch wenn sie sich nicht immer an alle Details aus jenen Jahren erinnern können, die guten Gefühle kommen auf jeden Fall wieder hoch.“

Das ist auch im Chorgestühl hinter dem großen Altarkreuz der St.-Joseph-Kirche zu spüren. Zehn Besucher der Tagespflege und ihre Pflegerinnen und Betreuerinnen haben dort Platz genommen. In der Mitte brennt die Kerze am Adventskranz. Am Klavier sitzt Kantor Winfried Müller und stimmt das erste Lied an. Einen festen Plan für die musikalische Begleitung gibt es nicht, sagt er. „Ich höre gern in die Gruppe rein und entscheide, welche Lieder ihr heute guttun.“

Liederbücher werden nicht gebraucht

Lange hineinhören muss er dieses Mal nicht. Es sind die alten Gotteslob-Lieder für den Advent, die sofort laut mitgesungen werden: „Macht hoch die Tür“ und „Wir sagen euch an den lieben Advent“. Die Gäste der Tagesklinik lassen dabei die Liederbücher sinken. Die Texte sind so präsent wie die Erinnerung an die alten Zeiten. Wie auch die Gebete, die mitgesprochen werden – manchmal auch jene, die sonst nur der Priester spricht.

Es kommt vor, dass sich Besucher der Tagesklinik nicht daran erinnern können, was sie vor einer Stunde erlebt haben. Die Bibeltexte aber sprechen sie mit. Querdel erinnert sich an eine alte Dame, die immer die Lesung vortrug. „Dafür brauchte sie den Text nicht, sie hat ihn frei vorgetragen.“ Solche Momente geben etwas, was den Menschen mit Demenz oft besonders fehlt, sagt sie: „Sicherheit und Geborgenheit.“ Im Gottesdienst sind sie sofort an einem Punkt, an dem sie früher Halt erfahren haben. „Und sie erleben das Gefühl heute nicht weniger stark.“

Sicher in Gottes Mauern

Pater Michael Baumbach vom Orden der Missionare von der Heiligen Familie ist gekommen, um zu zelebrieren. „Gott schafft uns feste, sichere Mauern“, sagt er. „Eine Heimat, in der wir sorgenfrei sein können.“ Ein adventliches Thema sei das: „Wir erwarten Gott, der unsere kleinen Mauern sprengt, um uns in seinem großen Haus Schutz zu geben.“

Es ist nur eine halbe Stunde im Wochenplan der Tagespflege. Aber eine, die die Gäste nicht missen wollen. Während der Pausen in der Corona-Zeit war das deutlich zu spüren, sagt Querdel, die vor 15 Jahren zum ersten Mal die wöchentlichen Gottesdienste organisierte. „Wenn sie ausfallen, fehlt ein wichtiger Ruhepol in Alltags-Rhythmus.“ Den haben heute alle deutlich gespürt, ist am Ende der Messfeier herauszuhören. Das laute „Danke“ einer alten Dame im Rollstuhl unterstreicht das genauso wie die Worte einer anderen Dame, die mit ihrem Rollator die Kirche verlässt: „Das brauche ich einfach zum Leben.“

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