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Die beiden großen Kirchen in Deutschland verlieren nach Erkenntnissen des Hamburger Historikers Thomas Großbölting nicht nur stark an Mitgliedern. Auch das moralische Kapital, das Nicht-Christen den Kirchen weithin zugebilligt hätten, werde durch den Missbrauchsskandal aufgezehrt, sagte Großbölting am Mittwoch in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Hamburg. Der Anteil der Christen in Deutschland dürfte schon bald auf unter 50 Prozent sinken.
Großbölting, der 2013 unter dem Titel "Der verlorene Himmel" ein Buch zur Geschichte des Christentums in Deutschland seit 1945 veröffentlicht hatte, sagte insbesondere mit Blick auf die katholische Kirche, das Vertrauen in Kirchen, Bischöfe und Pfarrer werde "zunehmend durch Distanz, gelegentlich sogar von grundsätzlichem Misstrauen" ersetzt. Auch Politiker, die von der Nähe zu den Kirchen lange profitiert hätten, gingen auf Distanz. Dazu trage auch bei, dass aus Sicht vieler Bürger die Bischöfe bei der Aufklärung von Missbrauch versagten. "Niemand will Verantwortung übernehmen und zurücktreten."
Großbölting ist Leiter einer unabhängigen Historikerkommission der Universität Münster, die im Auftrag des Bistums Münster den Umgang mit Missbrauch in der Diözese aufarbeitet. Erste Ergebnisse hat das Forscherteam im Dezember 2020 vorgestellt. Das Gesamtgutachten soll im Frühjahr 2022 präsentiert werden.
Großbölting: Tiefgreifende Entkirchlichung
Der Historiker verwies zugleich darauf, dass die Entkirchlichung in Deutschland schon seit den 50er-Jahren zu beobachten sei. Zwar habe es nach dem Zusammenbruch Nazideutschlands einen kurzen religiösen Frühling gegeben. Doch bereits kurz darauf habe ein wachsender Teil der Deutschen zentrale Glaubensinhalte oder die Sexuallehre der Kirche nicht mehr geteilt.
"Eigentlich geht die Geschichtswissenschaft davon aus, dass sich Mentalitäten und Weltanschauungen nur sehr langsam ändern", sagte der Historiker. "Mit Blick auf das religiöse Feld in der Bundesrepublik scheint diese Regel außer Kraft gesetzt. In drei bis vier Generationen beobachten wir eine tiefgreifende Entkirchlichung."
Privilegien der Kirche in Frage gestellt
Großbölting rechnet mit einem stark sinkenden Einfluss der Kirchen in Politik und Gesellschaft. Die in der Geschichte der Bundesrepublik traditionell sehr enge Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche werde immer brüchiger, sagte der Professor für Neuere und Neueste Geschichte in Hamburg.
Als Gründe nannte er die sinkende Zahl von Christen in Deutschland, den zunehmenden Anteil Konfessionsloser und eine wachsende religiöse Pluralität unter anderem durch den Islam. Deshalb würden Privilegien der Kirchen wie das eigene Arbeitsrecht, die Sitze in den Rundfunkräten oder die historisch bedingten Staatsleistungen zunehmend in Frage gestellt.
Starke Erosion auch bei kirchlich Beheimateten
Der Historiker prognostiziert eine weitere Abkehr von den Kirchen. Bislang gebe es - neben der abnehmenden Minderheit, die an zentralen Glaubensinhalten festhält - immer noch viele Deutsche, die die Kirchen als eine Heimat empfinden oder die aus Gewohnheit nicht austreten. "Aber all das erodiert." Zunächst gebe es eine Abwendung von der kirchlichen Lehre und Praxis, dann den formalen Austritt.
Der dritte Schritt sei dann auch die Abkehr von der christlichen Kulturtradition. "Das alles vollzieht sich oft im Übergang zwischen den Generationen: Den in den 60er Jahren geborenen Eltern gelingt es nicht mehr, ihren Kindern eine Nähe zu Kirche und Religion zu vermitteln. Spätestens die Kinder treten dann aus."