Kommentar zum Jahreswechsel von Chefredakteur Markus Nolte

Eine reformunfähige Kirche ist Gift auch für die Gesellschaft

Anzeige

Rücktrittsangebote von Bischöfen - und deren Ablehnung, schleppende Missbrauchs-Aufklärung, rekordverdächtige Kirchenaustritte, gesellschaftlicher Bedeutungsverlust: 2021 war ein Beben für die katholische Kirche in Deutschland. Die Auswirkungen aber sind keineswegs nur für sie katastrophal, sagt Chefredakteur Markus Nolte in seinem Kommentar zum Jahreswechsel.

Spätestens an Silvester ist den meisten Weihnachtsbäumen längst der „Knut“ gemacht. Hier und da flogen sie schon am 26. Dezember aus den Wohnungen. Nach einem Monat Christmas-Time ist es auch mal gut mit Lichterketten, Sternen-Blingbling und „Hohoho“ vom Santa.

Infantilisierung par excellence: Den Anfang der Weihnachtszeit markiert Cocacola mit seiner Erfindung eines rauschbärtigen Weihnachtsmanns im rotweißen Bommelmützen-Kostüm; ihr Ende bestimmt Ikea mit der Marketing-Adaption des schwedischen „Knut“-Brauchs, Weihnachtsbäume durchs Fens­ter zu katapultieren. Und irgendwo behauptete eine Reklame, Weihnachtszeit sei Bockwurstzeit.

Kinderkram mit Martin, Nikolaus, Dreikönige

Kleiner Trost: Knut war ein dänischer Prinz, der am 7. Januar 1131, also am Tag nach Dreikönige, ermordet und später heiliggesprochen wurde. Und immerhin benennt eine munter säkularisierende westliche Welt auch das Ende des Kirchenkrisenjahrs 2021 nach einem Papst.

So ist das: Christliche Gedenktage sind kaum mehr als Kinderbelustigung und freizeitliche Erwachsenenbespaßung, denkt man an die einzig verbliebenen populären Heiligen Martin, Nikolaus, Drei Könige und Valentin. Christi Himmelfahrt ist Vatertag mit Bollerwagen, und Totengedenken wird mit Gruselpartys überspielt.

„Abkehr von der christlichen Kulturtradition“

Natürlich sind diese Entwicklungen weder neu noch in ihrer Komplexität Anlass für Kulturpessimismus à la „Untergang des Abendlandes“. Aber eine kirchlich hausgemachte „Abkehr von der christlichen Kulturtradition“ prognostiziert auch der His­toriker Thomas Großbölting.

Dass Glaubensrituale zum Kinderkram schmelzen und ihr Vollzug und Inhalt kaum noch Orientierung bringen – dazu hat die Kirche im vergangenen Jahr ordentlich beigetragen. Und das ist katastrophal.

Unbewegliche Institution

Denn: Wie soll ihre Rede von Vergebung wertvoll bleiben, wenn sie selber Schuld vertuscht? Wie will sie Macht sensibel ausüben, wenn sie Verantwortung für Machtmissbrauch ablehnt? Warum sollen Demut und Dienst gesellschaftlich gelebt werden, wenn sie kirchlicherseits nicht glaubwürdig vorgelebt werden? Wie soll man Gott als Liebe glauben, wenn die Kirche trotz Regenbogeninflation urteilend sagt, welche Liebe keine ist?

Die Unbeweglichkeit der Institution lässt nicht nur tief gläubige Menschen innerlich heimatlos werden, auch wenn sie dem nicht – wie viele andere 2021 – durch einen formellen Abschied Ausdruck gegeben haben. Es geht auch nicht nur um personell und finanziell dramatische Folgen für die kirchlichen Strukturen, letztlich für Seelsorge und Gemeinden.

Was auf dem Spiel steht

Vielmehr: Die Relevanz-Erosion besonders der katholischen Kirche hat massive Auswirkungen für die säkulare Gemeinschaft. Dass das Christentum da nur in Verdunstungsresten übrig bleibt, wo es Kindern etwas „bringen“ soll, deutet an, was auf dem Spiel steht – die auch religiös gegründete Vermittlung von Urvertrauen in unserer Gesellschaft: Dass jeder und jede wertvoll ist. Dass Leben mehr ist als Leistung. Dass Schuld bekannt und vergeben werden kann. Dass Ungerechtigkeit lautstark beklagt werden muss. Dass dunkle Zeiten und Seiten ihren Sinn haben können. Dass Krankheit und Tod keine Niederlage sind. Dass Vielfalt bereichert und Freiheit immer auch die Freiheit des anderen meint. Dass alle mit allen verbunden sind.

Und: Dass alles, was ist, längst nicht alles ist.

Anzeige